Mündliches Berufungsverfahren
Erneut kassiert das Bundesgericht ein Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, das auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hatte, nachdem es diese zunächst selbst als notwendig erachtet hatte (BGer 6B_939/2014 vom 11.06.2015).
Das Bundesgericht scheint es nicht mehr zu akzeptieren, dass in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen erstinstanzliche Freisprüche im schriftlichen Berufungsverfahren in Schuldsprüche verwandelt werden:
Nicht nachvollziehbar ist der Verzicht auf eine mündliche Berufungsverhandlung auch mit Blick darauf, dass der Sachverhalt strittig ist, es sich um eine klassische “Aussage gegen Aussage”-Situation handelt und die Vorinstanz zu Ungunsten des Beschwerdeführers vom erstinstanzlich festgestellten Sachverhalt abweicht (vgl. BGE 140 IV 196 E. 4.4.1 S. 199 mit Hinweisen; 139 IV 290 E. 1.3 S. 293). Die Befragung der Parteien hätte es ihr insbesondere ermöglicht, einen persönlichen Eindruck von deren Aussageverhalten und Glaubwürdigkeit zu gewinnen und allenfalls die vom erstinstanzlichen Gericht und dem Beschwerdeführer angeführten Widersprüche und Unklarheiten hinsichtlich der Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 zu beseitigen. Es ist nicht ersichtlich, wie die Vorinstanz ohne persönlichen Eindruck der Parteien beurteilen will, ob die Anschuldigungen der Beschwerdegegnerin 2 glaubhaft sind (E. 1.3.2).
Der Verzicht auf die ursprünglich angesetzte mündliche Verhandlung erfolgte offenbar, nachdem der Berufungskläger eine Verschiebung der Verhandlung wegen unmittelbar bevorstehender Lehrabschlussprüfung beantragt hatte, die das Obergericht als mutwillig qualifiziert hatte. Auch dafür zeigt nun das Bundesgericht kein Verständnis:
Die Lehrabschlussprüfung in zwei Fächern am Tag nach der Berufungsverhandlung stellt einen hinreichenden Verschiebungsgrund im Sinne von Art. 92 StPO dar. Ein Strafverfahren stellt für die beschuldigte Person regelmässig eine erhebliche Belastung dar (vgl. BGE 120 IV 17 E. 2a/aa S. 19 mit Hinweis). Die Teilnahme an der Berufungsverhandlung kurz vor Beginn der Prüfungen ist geeignet, die Vorbereitungen darauf zu beeinträchtigen. Der Beschwerdeführer stand zudem unter besonderem Druck, nachdem er die Lehrabschlussprüfung beim ersten Versuch nicht bestanden hatte. Sachliche Gründe, die gegen eine Verschiebung der Berufungsverhandlung sprechen, sind nicht ersichtlich und wurden von der Vorinstanz auch nicht angeführt (E. 1.3.3).
Es würde mich interessieren, ob das Obergericht zusätzliche Stellen beantragt, beispielsweise mit der Begründung, dass es fast jeden Straffall mindestens zweimal beurteilen muss.
Was das OGer AG zum Verschiebungsantrag gesagt hat, lässt sich an Abgehobenheit nicht toppen. Ich bin wahrlich kein Freund von Laienrichtergremien, aber hier scheint mir die Distanz der Oberrichter zur Realität des normalsterblichen Arbeitsvolk dermassen fern, dass ich sie mir fast wieder wünschte.
Es spricht nicht für die kant. Judikative, wenn solche Entscheide nach Lausanne müssen. Und förderlich für das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz ist es auch nicht. Schade.