Mündliches Berufungsverfahren
Erneut pfeift das Bundesgericht das Obergericht AG zurück, das einen erstinstanzlichen Freispruch im schriftlichen Verfahren aufgrund von Aussagen Dritter in einen Schuldspruch verwandeln wollte (BGer 6B_958/2019 vom 05.02.2020):
Die Anwesenheit der beschuldigten Person ist per se erforderlich, wenn die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt grundlegend anders würdigt als die erste Instanz und die beschuldigte Person gestützt auf die entsprechenden Sachverhaltsfeststellungen (BGE 139 IV 290 E. 1.3 S. 293) schuldig spricht (erwähntes Urteil 6B_973/2019 E. 3). Ein solcher Fall ist hier offenkundig gegeben, nachdem die Vorinstanz die erstinstanzlichen Freisprüche betreffend mehrfachen Betrug und mehrfache Urkundenfälschung u.a. anhand einer eigenen Würdigung der Aussagen Dritter mit Schuldsprüchen ersetzt (E. 3.2).
Trotz seines Obsiegens muss der Beschwerdeführer die reduzierten Gerichtskosten zahlen, erhält aber auch eine reduzierte Parteientschädigung in doppelter Höhe. Die bundesgerichtliche Begründung dazu lautet wie folgt:
Ausgangsgemäss gehen die Gerichtskosten teilweise zu Lasten des Beschwerdeführers, nicht aber zu Lasten des Kantons (Art. 66 Abs. 1und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG) [E. 8.2].
Der Entscheid enthält auch interessante Ausführungen zum Anklageprinzip (diese sind allerdings eher unerfreulich) und zu den Teilnahmerechten im Zusammenhang mit einem Rollenwechsel.
Dass das berufungsverfahren auf den beweisen des vorverfahrens und des erstinstanzlichen gerichtsverfahrens beruht, wird mit solchen bundesgerichtsentscheiden zur reinen worthülse. Plötzlich gilt das unmittelbarkeitsprinzip, was schlicht und einfach nicht der eigentlichen gesetzlich vorgesehenen konzeption des berufungsverfahrens entspricht. Schwer nachvollziehbar.
@B. Rufung: Wir haben ja immerhin noch Art. 343 Abs. 3 StPO. Sonst könnten wir die Beweisabnahme samt Würdigung gleich der Staatsanwaltschaft überlassen. Hier bin ich vorbehaltlos auf der Seite des Bundesgerichts.
Sehr geehrte(r) B. Rufung,
Sie treffen da schon einen Punkt, aber der Gesetzgeber hat es – wie Art. 389 Abs. 3 StPO zeigt – anders gewollt.
1) Wie Gunhild Godenzi in ihrer Habil anschaulich aufzeigt, dient das Berufungsverfahren dazu, eine echte Second Opinion zu erhalten. Diese Opinion muss auf einen vollständig ermittelten Sachverhalt abstellen können. Wurden die Beweise durch die Staatsanwaltschaft und die este Instanz unvollständig erhoben, so hat das Berufungsgericht Beweiserhebungen gestützt auf Art. 389 Abs. 3 StPO nachzuholen (vgl. BGer Urteil 6B_288/2015 vom 12. Oktober 2015, E. 1.5.4: „Auch das Berufungsgericht kann unter Umständen gehalten sein, zusätzliche Beweise zu erheben.“). Dies ist Ausdruck des gesetzgeberischen Willens, die Hauptverhandlung bei der Berufung wegen Verbrechen und Vergehen „auf eine Fortsetzung und Vertiefung der Wahrheitssuche “ auszurichten (Gödenzi, Second Opinion, S. 12 f. abrufbar hier https://zstrr.recht.ch/fr/artikel/01rps0118abh/second-opinion).
[Natürlich wäre auch eine andere Lösung denkbar – darauf zielt Ihre Bemerkung ab: Keine Vervollständigung des Sachverhalts durch die Berufungsinstanz, sondern jedes Mal Rückweisung an die erste Instanz. Aber das ist nicht die schweizerische Lösung und wäre aus verfahrensökonomischen Gründen auch nicht zu begrüssen, solange es um blosse Ergänzungen geht.]
2) Auf den vorliegenden Fall angewendet: Hier hatte der Beschwerdeführer, der von der Vorinstanz (Obergericht des Kt. Aargau) wegen Betrugs verurteilt wurde, nachdem ihn die erste Instanz (Bezirksgericht Aarau) noch freigesprochen hatte, gerügt, es gehe nicht an, „dass eine obere Instanz die Aussagen von Personen, von denen sie sich keinen persönlichen Eindruck bilden konnte [weil nur schriftliches Berufungsverfahren], im schriftlichen Verfahren abweichend von der ersten Instanz würdige, soweit diese selbst persönliche Befragungen durchgeführt habe“ (vgl. E. 3.1.).
[Im Ergebnis führte das Vorgehen des Obergerichts Aargau zu keiner echten Second Opinion, wie sie das Gesetz erfordert, denn es hat die Sache weder an die erste Instanz zurückgewiesen, noch eine echte, eigene Sachverhaltswürdigung vorgenommen: „Sachverhalt grundlegend anders würdigt als die erste Instanz und die beschuldigte Person gestützt auf die entsprechenden Sachverhaltsfeststellungen (BGE 139 IV 290 E. 1.3 S. 293) schuldig spricht“]
Es ist m.M. nach (1) aus rechtsstaatlicher Sicht von entscheidender Bedeutung, dass eine Anklage durch zwei Instanzen beurteilt wird, nicht bloss durch eine Instanz. (2) Bei dieser Ausgangslage ist hinzunehmen, dass eine zweitinstanzliche Verurteilung auf einen erstinstanzlichen Freispruch folgt – genau so wie der umgekehrte Fall, also Freispruch erst in zweiter Instanz. (3) Dies ist nur vernünftig möglich, wenn das Berufungsgericht volle Kognition hat, den Sachverhalt vollständig ermittlet und – und dies hat das BGer hier entschieden – will es vom erstinstanzlichen Entscheid abweichen, dem Beschuldigten das rechtiche Gehör gewährt. (Bei einem Freispruch erst in zweiter Instanz wäre der STA als Berufungsklägerin und dem Privat- und Berufungskläger das rechtliche Gehör zu gewähren.)
@praktiker. Dass es rechtstaatlich womöglich wünschbarer wäre, dass das berufungsgericht beweise praktisch voraussetzungslos erneut erhebt, mag sein, entspricht aber nicht der konzeption der stpo. Abs. 3 von 389 stpo muss m. E. Im verbund mit den abs. 1 und 2 gelesen werden. „erforderlich“ sind zusätzliche beweise nur, wenn die voraussetzungen des abs. 2 erfüllt sind und dort lese ich nichts von voraussetzungsloser beweiserhebung. Umgekehrt steht im abs. 1 ausdrücklich, dass das berufungsverfahren auf den beweisen des vor- und hauptverfahrens beruht. Die marginalie heisst übrigens „beweisergänzungen“. Das tönt für mich nach punktuellen vervollständigungen aus gründen der prozessökonomie und nicht nach umfangreichen beweiserhebungen. 343 stpo ferner gilt für das erstinstanzliche verfahren und für das berufungsverfahren nur subsidiär (379 stpo). Namentlich schränkt 389 stpo als lex specialis die anwendbarkeit des 343 ein. Ich meine auch schon in bundesgerichtsentscheiden gelesen zu haben, dass das berufungsverfahren (sinngemäss) nicht einfach eine komplette neuauflage des erstinstanzlichen verfahrens sei. Dem stimme ich zu, nur ist dann eben nicht nachvollziehbar, dass das berufungsgericht umfangreiche beweise erheben muss, wobei man ja nach einer weiteren rechtsprechung des bg Auch nicht zurückweisen darf. Schliesslich kann ich nicht ganz nachvollziehen, warum man das rechtliche gehör gewähren müsste, sofern entgegen der ersten instanz ein schuldspruch in erwägung gezogen wird resp. Ich kann mir schwer vorstellen, wie das gehen soll. Wenn ein freispruch angefochten ist (durch die sta oder pk), muss der beschuldigte aufgrunddessen, dass ein neues urteil gefällt wird, doch ohnehin damit rechnen, dass entgegen dem erstinstanzlichen gericht entschieden wird oder missverstehe ich hier etwas?
Als „Praktiker“ scheinen Sie vor allem Gefallen am theoretischen Aufsatz einer aus Deutschland stammenden Professorin, die in der Schweiz kaum je einen Gerichtssaal von innen gesehen haben dürfte, zu finden. Der Lebenslauf von Professorin Godenzi spricht jedenfalls nicht für viel praktische Erfahrung als Verteidigerin oder Richterin in der Schweiz. Ein Berufungsverfahren hat nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts auch nichts mit einer „Second Opinion“ zu tun. Für das Bundesgericht spielt das erstinstanzliche Gericht und Urteil nämlich gar keine Rolle mehr, wenn es zum Berufungsverfahren kommt. Das Berufungsgericht muss dann in den angefochtenen Punkten alles nochmals oder auch erstmals machen. Es geht schon lange nicht mehr um eine blosse Ergänzung des Beweisverfahrens, sondern es findet eine starke und teilweise komplette Verlagerung des Beweisverfahrens ins Berufungsverfahren statt. Das kann man gut oder schlecht finden, passt aber jedenfalls schlecht zu Art. 389 StPO, wo von Ergänzungen, Wiederholungen nur unter bestimmten Bedingungen und zusätzlichen Beweisen die Rede ist. Das Bundesgericht interessiert sich aber bekanntlich nicht für den Gesetzeswortlaut, siehe Legitimation Staatsanwaltschaft oder Sicherheitshaft.
Danke für den Hinweis. Kleine Präzisierung, es müsste heissen BGer 6B_958/2020 vom 05.02.2021 (5. Februar 2021) nicht BGer 6B_958/2020 vom 04.02.2020. (4. Februar 2020)
@Ein Praktiker: Danke für den Hinweis. Es hatte sogar noch einen anderen Fehler. Gestimmt hat eigentlich nur der Link, sorry.
@B.Rufung
Ich finde in dem von mir geschriebenen Text keinen Anhaltspunkt für den Wunsch einer „voraussetzungslosen erneuten Erhebung des Sachverhalts“. Vielmehr bezog ich mich auf die Situation, in welcher der Sachverhalt unvollständig erhoben wurde (vgl. Art. 389 Abs. 2 lit. b StPO) und eine Ergänzung stattfindet.
@ein Theoretiker:
Ihre sachlichen Bemerkungen finde ich beachtenswert, allerdings zweifle ich ohne einen Verweis von Ihnen auf mehrere konkrete Entscheide daran, dass Berufungsgerichte tendenziell wirklich über eine Ergänzung des Sachverhalts hinausgehen oder das Bundesgericht dies von den Berufungsgerichten tatsächlich verlangt. Sie verweisen auf „eine starke und teilweise komplette Verlagerung des Beweisverfahrens ins Berufungsverfahren“. Haben Sie Belege für diese Behauptungen? (natürlich ist eine Ergänzung der Erhebung des Sachverhalts immer teilweise UND komplett NEU im Berufungsverfahren – dies ist im Begriff „Ergänzung“ immanent).
Ob ich Professorin Godenzis Antrittsvorlesung (ich habe mich da in der Kategorie geirrt – es handelt sich natürlich nicht um die Habil) vollständig und treffend zusammengefasst habe, dafür möchte ich nicht garantieren. Mir scheint die Idee einer Second Opinion auf jeden Fall treffend. Wenn ich mich in die Schuhe des Berufungsgerichts versetze, dann hab ich da gewisse Leitlinien, wie die Sache zu entscheiden ist, inklusive die First Opinion des ersten Gerichts. Und das Berufungsgericht ist kein blosses Kassationsgericht, sondern fällt eine Second Opinion.