Nachträgliche Anordnung der kleinen Verwahrung

Nach einem neuen Urteil des Bundesgerichts (BGer 6B_597/2012 vom 28.05.2013, Fünferbesetzung) kann die kleine Verwahrung nachträglich auch vom Berufungsgericht angeordnet werden, obwohl dafür grundsätzlich das erstinstanzliche Gericht zuständig ist (Art. 363 StPO i.V.m. Art. 65 Abs. 1 StGB). Beantragt hingegen die Vollzugsbehörde eine nachträgliche Anordnung der Verwahrung, ist nach Art. 65 Abs. 2 StGB das Revisionsgericht, also das Berufungsgericht zuständig (Art. 21 Abs. 1 lit. b StPO i.V.m. Art. 410 ff. StPO). Dies gilt auch im Rückweisungsverfahren (das Bundesgericht hatte die nachträgliche Anordnung der Verwahrung kassiert). Es ist im Ergebnis somit die Vollzugsbehörde, welche durch ihren Hauptantrag bestimmen kann, ob dem Betroffenen eine oder zwei Instanzen zur Verfügung stehen.

Zur rückwirkenden Anwendung des neurechtlichen Massnahmerechts äussert sich das Bundesgericht wie folgt:

Die Frage, ob das Rückwirkungsverbot auch für die nachträgliche Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme nach Art. 59 Abs. 1 StGB i.V.m. Art. 65 Abs. 1 StGB gilt, jedenfalls soweit es sich um eine Einweisung in eine geschlossene Einrichtung im Sinne von Art. 59 Abs. 3 StGB handelt, kann hier offen bleiben. Denn selbst wenn diese präventiv auf Behandlung und Sicherung ausgerichtete Massnahme im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK als Strafe einzuordnen wäre (…), wird der Beschwerdeführer durch deren nachträgliche Anordnung nicht strenger bestraft als nach dem zur Zeit der Tatbegehung geltenden Recht (E. 4.6).

Das konnte das Bundesgericht nur mit dem Hinweis auf die altrechtliche kantonalrechtliche Revision zulasten des Verurteilten begründen und tat es auch. Weiter hatte das Bundesgericht zu beurteilen, ob der Wechsel von Strafe zu Massnahme konventionskonform erfolgen konnte (Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK, “sufficient causal connection”). Auch diese Frage bejaht es:

Mit der konkreten Wiederaufnahme des Verfahrens zu Ungunsten des Beschwerdeführers wird auf das ursprüngliche Urteil in der Sache zurückgekommen und die nachträgliche Anordnung der Massnahme nach Art. 59 StGB i.V.m. Art. 65 Abs. 1 StGB daran angebunden (…). Das ursprüngliche Urteil in der Sache bildet mithin den Rechtsgrund (und nicht nur den Anlass) für die spätere Freiheitsentziehung, weil die Gründe für die erneute Inhaftierung nicht erst nachträglich während des Strafvollzugs entstanden, sondern bereits zum Zeitpunkt der Tatbegehung und der ursprünglichen Verurteilung vorlagen. Mit andern Worten hätte das urteilende Sachgericht eine solche Massnahme angeordnet, wenn es um die tatsächlichen Umstände des Geisteszustands des Beschwerdeführers und seiner daraus resultierenden Gefährlichkeit gewusst hätte. Damit ist die vom EGMR geforderte “sufficient causal connection” im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK zwischen dem Ausgangsurteil und der nachträglichen Anordnung einer Massnahme gegeben (E. 4.7.2).

Dass “ne bis in idem” auch nicht verletzt ist, kann der Erwägung 4.8 entnommen werden. Das Bundesgericht erkennt aussergewöhnliche Umstände darin, dass die qualifizierte Gefährlichkeit im ersten Verfahren übersehen worden war:

Art. 4 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK lässt weitgehende Ausnahmen vom Grundsatz “ne bis in idem” zu. Die Wiederaufnahme des Verfahrens zu Ungunsten des Betroffenen ist danach möglich, wenn neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist. Das gilt nach der Lehre auch für bereits verurteilte Täter, wenn der Mangel des Verfahrens oder die Unbekanntheit von Tatsachen eine (erheblich) schwerere Bestrafung verhindert hatte (…). Mit der Verfahrenswiederaufnahme aufgrund von neuen revisionserheblichen Tatsachen bzw. Beweismitteln ist der Bezug zum ursprünglichen Urteil in der Hauptsache gegeben und werden die Anlasstaten nicht doppelt sanktioniert. Es wird (vielmehr) an die zum Zeitpunkt der Tatbegehung und des ursprünglichen Urteils bereits vorgelegene (aber übersehene) schwere psychische Störung des Beschwerdeführers und dessen qualifizierte Gefährlichkeit angeknüpft.

In Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II ist die Wiederaufnahme des Verfahrens zum Nachteil des Täters nicht vorgesehen. Die Schweiz hat keinen Vorbehalt angebracht. Bei Vorliegen aussergewöhnlicher Umstände begründet die Verfahrenswiederaufnahme (trotz Fehlens eines Vorbehalts) jedoch auch in diesem Zusammenhang keine Verletzung des Grundsatzes “ne bis in idem” (…). Von solch aussergewöhnlichen Umständen, die eine Verfahrenswiederaufnahme erlauben und mit dem Grundsatz “ne bis in idem” nicht im Konflikt stehen, kann hier angesichts der bislang unbekannten, tatsächlichen Umstände betreffend den Geisteszustand des Beschwerdeführers und seiner sich daraus ergebenden qualifizierten Gefährlichkeit ausgegangen werden (E .4.8).