Neue Beschränkung von “in dubio pro reo”?
Eine kantonale Staatsanwaltschaft beschwert sich vor Bundesgericht sinngemäss und erfolgreich über eine von ihr selbst unterlassene Beweiserhebung (BGer 6B_690/2015 vom 25.11.2015). Dass es Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen wäre, den fraglichen Beweis vorschriftsgemäss zu erheben oder dann im Hauptverfahren wenigstens zu beantragen, hat das Bundesgericht nicht gestört. Hätte ein Beschuldigter eine solche Beschwerde geführt, wäre das Bundesgericht mit Sicherheit nicht eingetreten (“double instance”, Treu und Glauben).
Der Entscheid ist aber auch deshalb beachtlich, weil er den Strafverfolgern Tür und Tor für unzulässige Beweiserhebungen (hier: schriftliche Auskünfte statt Befragungen) öffnet und den Ball der Verteidigung zuschiebt, deren Aufgabe es dann sein soll, die entsprechenden Beweisaufnahmen wiederholen zu lassen. Zudem schränkt das Urteil den Grundsatz “in dubio pro reo” ganz massiv ein:
Dies bedeutet in Bezug auf den zu beurteilenden Fall, dass dem Beschwerdegegner bei der Einholung des schriftlichen Berichts bei der B. AG hätte Gelegenheit geboten werden müssen, dazu Stellung zu nehmen und gegebenenfalls eine ergänzende Einvernahme des Verfassers des Berichts zu beantragen. Ob der Umstand, dass der Beschwerdegegner zur Sache die Aussage verweigert hat (…), als ausdrücklicher Verzicht auf seine Teilnahmerechte zu würdigen ist (…), kann hier letztlich offenbleiben. Denn die Vorinstanz stellt sich, soweit sie annimmt, die schriftliche Auskunft der B. AG sei wegen Verletzung der Teilnahmerechte und der Missachtung der Belehrungspflichten nicht zu Lasten des Beschwerdegegners verwertbar, im Ergebnis auf den Standpunkt, die Beweise seien im Untersuchungsverfahren nicht ordnungsgemäss erhoben worden (…). Bei dieser Sachlage hätte sie sich indes nicht darauf beschränken dürfen, die schriftliche Auskunft als unverwertbar zu erachten, sondern hätte gemäss Art. 343 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 405 Abs. 1 StPO die Beweise unter Wahrung der Parteirechte des Beschwerdegegners selber erheben und die mit der Lieferung befassten Mitarbeiter der B. AG befragen müssen. Ein Freispruch in Anwendung des Grundsatzes “in dubio pro reo” kann nur erfolgen, wenn alle aus Sicht des urteilenden Gerichts notwendigen Beweise erhoben wurden.
Das führt zurück in ein inquisitorisch geprägtes Strafverfahren. Der Richter wird zum Ankläger.
Lieber Herr Jeker
Ich bin eifriger Leser ihrer Posts und bewundere immer wieder Ihre analytischen Kommentare. Ausnahmsweise – Sie erlauben es mir – kann ich dem vorstehenden Schlusssatz allerdings nicht folgen:
-das Beweisverfahren kollidiert (im konkreten Fall) keineswegs mit dem Anklagegrundsatz.
-Vom Anklagegrundsatz nicht mitfreust sind die von Stawa erhobenen Beweise!
-der Grundsatz in dubio wird durch das Bundesgericht völlig richtig definiert; sind noch nicht nicht alle (möglichen und relevanten) Beweise (korrekt!) erhoben, können verfahrensrechtlich auch keine relevanten Zweifel am Beweisergebnis bereits besten!
Ich bin gespannt auch Ihre Meinung!
Gruss:
Dieter M. Troxler
Da habe ich halt eine ganz andere Meinung. In dubio pro reo ist auch eine Beweilastregel. Diese wird aber ausgeschaltet, wenn der Richter dafür zu sorgen hat, dass die Ankläger ihrer Beweispflicht und Beweislast nachkommen. Unser System mit dem aktiv wahrheitssuchenden Richter ist ein Relikt der Inquisition, das durch das Urteil des Bundesgerichts noch verstärkt wurde.
überspitzt formuliert: Als Staatsanwalt muss man sich bei der Beweiserhebung gar keine Gedanken mehr machen. Oder gar keine Beweiserhebungen mehr machen. Das soll das Gericht (bei Bedarf) nachholen.
Dem kann ich mich anschliessen; nur, wenn es zu einem Freispruch kommt,
also eine Aklage ohne Beweiserhebungen vorliegt? Wird eine solche Anklage überhaupt an die Hand genommen? ich habe Zweifel; aber überspitzt ausgedrückt, sind die Schlussfolgerungen wohl schon richtig!
@ ja: überspitzt formuliert könnte man auch sagen: Das Gericht darf nicht einfach den kürzesten und leichtesten Weg nehmen, um den Fall zu “erledigen”. Wenn es ein Beweismittel für unverwertbar hält, dieses jedoch neu und formrichtig erheben könnte, dann muss es das auch tun. Meines Erachtens ein völlig einleuchtendes Urteil des Bundesgerichts…
Habe ich eben auch so verstanden; nicht alles was aus Lausanne kommt braucht und lässt sich kritisieren. Ich erachte das Urteil im Gegenteil sogar als lehrbuchmässige Darlegung des Beweisverfahren erster Instanz und für eine wichtige Klarstellung des Grundsatzes in dubio… .