Neuer Grundsatzentscheid zum Berufungsverfahren

Das Bundesgericht unterstreicht einmal mehr, dass das Berufungsverfahren (BGE 6B_803/2015 vom 26.04.2017, Publikation in der AS vorgesehen) nach Art. 405 Abs. 2 und 3 StPO als mündliches kontradiktorisches Verfahren mit Vorladung der Parteien ausgestaltet ist.

Eine Befragung hat auch dann zu erfolgen, wenn die Verteidigung dies nicht beantragt:

Es obliegt der Verfahrensleitung, den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensgang sicherzustellen. Ergänzungsfragen der Parteien können zwar eine lückenhafte gerichtliche Befragung komplettieren, eine fehlende jedoch grundsätzlich nicht ersetzen (vgl. GUT/FINGERHUTH, in: Kommentar zur schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 11 zu Art. 341 StPO) [E. 1.4.3].

Im Einzelnen gilt somit folgendes:

Die Vorinstanz begründet ihren Verzicht auf die Befragung des Beschwerdegegners mit dem Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer dessen Befragung nicht beantragt habe. Das Berufungsgericht ist jedoch verpflichtet, nicht nur auf Antrag, sondern von Amtes wegen für eine rechtskonforme Beweiserhebung besorgt zu sein. Sie wird deshalb zu prüfen haben, ob der Beschwerdegegner unter den Voraussetzungen von Art. 389 Abs. 2 und Art. 343 Abs. 3 i.V.m. Art. 405 StPO von Amtes wegen neu einzuvernehmen sein wird (…). Zum anderen übersieht die Vorinstanz, dass sie den Beschwerdegegner in Anwendung von Art. 405 Abs. 2 StPO zur Berufungsverhandlung vorgeladen hatte (…). Warum der Beschwerdegegner der Vorladung keine Folge leistete und die Berufungsverhandlung trotz dessen Abwesenheit fortgeführt wurde, ist nicht ersichtlich. Der kontradiktorische Charakter des mündlichen Berufungsverfahrens sieht die Anwesenheit der Parteien vor, auf die nur in einfach gelagerten Fällen verzichtet werden kann, namentlich wenn der Sachverhalt unbestritten und nicht angefochten und deshalb eine Einvernahme (auch hinsichtlich der Zivilforderung) nicht erforderlich ist (…). Dies war vorliegend nicht der Fall (E. 1.4.4).

Der angefochtene Entscheid datiert übrigens vom 10. Dezember 2014. Wieso bis zum Urteil des Bundesgerichts zweieinhalb Jahre vergingen, geht aus dem Urteil nicht hervor. Ich vermute, dass die offenbar vollkommen überlastete Vorinstanz die Begründungsfrist verletzt hat.