Notwendige Verteidigung
Im aktuellen Jusletter ist ein Beitrag zur Verteidigungstätigkeit erschienen, dem viele Verteidiger wohl eher kritisch gegenüberstehen (Daniel Jositsch / Katarina Clavuot-Jaksic, Die Verteidigungstätigkeit im Rahmen der notwendigen Verteidigung, in: Jusletter 22. Februar 2021). Anlass für den Beitrag war offenbar der Fall Behring, dessen Konflikt mit seiner Pflichtverteidigung sowohl vor Bundesstrafgericht (BStGer SK.2015.44 vom 30.09.2016 / 30.03.2017.) als auch vor Bundesgericht (BGer 6B_28/2018 vom 07.08.2018) ausgetragen wurde. Der Beitrag erfasst die Problematik leider nur teilweise, was daran liegen könnte, dass die beiden Autoren kaum über Erfahrung mit praktischer Verteidigungsarbeit verfügen dürften.
Das folgende Fazit der Autoren, welche die beiden genannten Entscheide kritisieren, wird aber zweifellos auch von den praktizierenden Verteidigern geteilt:
Zusammengefasst gilt es festzuhalten, dass die Einschränkung der Verteidigungstätigkeit auf die Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit der Verfahrenshandlung bei einer unkooperativen beschuldigten Person nicht zu überzeugen vermag, da sie sowohl dem Zweck des Instituts der notwendigen Verteidigung als auch der Bedeutung der Verteidigungsrechte im Strafverfahren nicht gerecht wird. Eine derartige Praxis würde die Grundfunktion des Instituts aushöhlen und ins Leere laufen lassen (Rz. 25).
Schwieriger sind aber Äusserungen, die etwas aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Ich zitiere als Teaser für die Lektüre des Beitrags:
Die Verteidigung wird auch als «Gehilfin des Richters» oder als «Teil der Rechtspflege» und «Dienerin des Rechts» bezeichnet.
Damit das Gericht zu einem möglichst gerechten Urteil gelangt, soll in schwerwiegenden Fällen die zwingende Bestellung der Verteidigung dazu dienen, die dem modernen Strafprozess zugrundeliegende Vorstellung des kontradiktorischen Verfahrens als Grundlage für die Erforschung der materiellen Wahrheit zu verwirklichen.
Der Gesetzgeber hat die notwendige Verteidigung jedoch zwingend konzipiert, da er u.E. zu Recht davon ausgegangen ist, dass die beschuldigte Person in den gesetzlich vorgesehenen Fällen auf die professionelle Hilfe eines Rechtsbeistands angewiesen ist, damit ein faires Verfahren – und insbesondere das Prinzip der Waffengleichheit – sichergestellt werden kann.
Im Rahmen einer amtlichen Verteidigung ist der Rechtsbeistand verpflichtet, die Interessen der beschuldigten Person zu wahren und auf ein möglichst mildes Urteil hinzuwirken. Wenn die Verteidigung aber lediglich die Verfahrenshandlungen auf ihre Rechtmässigkeit hin prüft, ist es ihr freilich nicht möglich, auf ein mildes Urteil hinzuwirken.
Dass sich die Verteidigung jedoch dem Willen der beschuldigten Person im Sinn einer partnerschaftlichen Konzeption des Verteidigungsinnenverhältnisses in jedem Fall beugen sollte – beispielsweise selbst dann, wenn die von der beschuldigten Person verfolgte Strategie auch das von ihr eigens angestrebte Ziel offensichtlich verfehlen würde –, ist u.E. in Bezug auf eine notwendige Verteidigung zu verneinen, da dies im Widerspruch zu ihrer Funktion stehen würde.
Dem Teil der Lehre, der die Ansicht vertritt, wonach das Aufzwingen einer Verteidigung aus staatlicher Fürsorge, die Stellung der beschuldigten Person als Subjekt untergrabe, kann nicht zugestimmt werden.
Die Weigerung, mit dem amtlichen Verteidiger zusammenarbeiten, vermag in der Regel keinen Verteidigerwechsel zu begründen.
Lustig, dass man Jositsch mangelnden Praxisbezug vorwirft, nur, weil er eine abweichende Meinung vertritt. Jositsch ist immerhin einer, der das Strafrecht auch praktiziert und die Strafverteidigung kennt. Dies im Gegensatz zu anderen ordentlichen Profs., etwa die meisten an der UZH, die wegen Praxisferne oft weltfremd argumentieren.
@Kolikov: Ich habe Jositsch keinen Vorwurf gemacht und ich habe auch keine abweichende Meinung geäussert. Ich habe höchstens durchblicken lassen, dass ich der Auffassung von Wohlers folge. Davon unabhängig glaube ich nicht, dass Jostisch schon sehr häufig notwendige Verteidigungen geführt hat, aber das ist sicher kein Vorwurf. Er hat einfach einen anderen Beruf gewählt.
Bei Wendungen wie “die Verteidigung ist gehilfin des richters” läufts mir auch kalt den rücken runter. Das ist sicher nicht die aufgabe der verteidigung und degradiert sie in meinen augen. Ich teile aber die Auffassung, dass die Verteidigung nicht blind alles tun sollte, was der Klient gerade von sich gibt. Es ist m. E. Auch nicht in jedem Fall sonnenklar, was die Interessen sind bzw. die Interessen des Klienten können auch widersprüchlich sein. Wenn bspw. Der klient Eine völlig untaugliche massnahme will, die seinem auch geäusserten eigentlichen interesse aber nicht dient oder gar zuwider läuft, sollte man diese untaugliche massnahme dann ergreifen? Es kann bspw. Untauglich sein, die immer wieder gleichen fragen mittels rechtsmittel aufzuwerfen, die schon x mal entschieden wurden. Das interesse, sagen wir mal, an der haftentlassung wird trotzdem nicht erreicht. Dann kann die kosten produzierende prozessiererei doch auch nicht im interesse des klienten sein. Im wahlmandat kann man das mandat niederlegen, bei der notwendigen, amtlichen nicht so leicht, das ist mir bewusst. Bei letzterer ist es darum besonders schwierig, wenn der klient etwas will, was die verteidigung nicht tun soll/kann/will. Da der klient bei der notwendigen verteidigung aber aus rechtsstaatsgründen (also wegen uns und nicht seinem subjektiven wunsch) nicht einfach seinen anwalt loswerden kann, muss dieses spannungsverhältnis ausgehalten werden.
In meinen Augen sind die standesethischen Regeln, die der Verteidigung Grenzen setzen, unzureichend. Das System funktioniert nur deshalb, weil die Mehrheit der Verteidigerinnen und Verteidiger sich im Strafprozess fair und mit sehr viel Augenmass verhalten und eben auch ihre Mandanten zu derartigem Verhalten anstossen.
Wenn Ziel eines Strafprozesses die “Erforschung der materiellen Wahrheit” “unter Einhaltung von rechtsstaatlichen Prozessen” und zusätzlich die “Erlangung eines fairen und verschuldensangemessenen Ergebnisses” sein soll, dann läuft das Institut der Verteidigung diesem Interesse eigentlich entgegen.
Würden gewisse Verteidigungsstrategien (wie zum Beispiel Verfahrensverzögerung durch Ergreifung jedes erdenklichen Rechtsmittels) absolut und konsequent angewendet, wären diese Ziele gar nicht erreichbar und es würde die Justiz wahrscheinlich kollabieren.
@Thomas Lieven: Es ist auch völlig unhaltbar, privates Verbandsrecht (Standesrecht) zum Gesetz zu erheben. Das Standesrecht machen ja die (im Verband organisierten) Anwälte für sich selbst. In D hat das BVerfG dies auch so gesehen. Ich werde im SAV mal verlangen, dass das Standesrecht um folgende Klausel ergänzt wird: “Die Interessenwahrung steht über allem und darf auf die gesetzlichen Vorschriften keine Rücksicht nehmen”. Das würde dann via StPO 128 Gesetz. Und ja, Sie haben Recht. Wenn wir Verteidiger nicht so brav wären, würde das System ziemlich rasch kollabieren.
So oder anders, dann bleibt halt nur noch der Mandant übrig der das Verfahren “lenkt” und am amtlichen Verteidiger vorbei eben die Anträge stellt, welche der Verteidiger als “Verurteilungsbegleiter” nicht stellen wollte.
Es ist regelmässig schön anzusehen wenn es dem Beschuldigten gelingt, Zwietracht zwischen seiner amtlichen Verteidigung, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht zu säen. Zum Bespiel in der Begründung derselben:
“Mein Verteidiger wollte die Anträge nicht stellen, hat mir aber geraten dieses selber zu tun” “Der Verteidiger hat mir gesagt, dass er keine amtlichen Mandate mehr kriegt, wenn er die Anträge einreichen würde”
Dass die Verteidigung “Dienerin des Rechts” sei und insbesondere der materiellen Wahrheitsfindung dienen soll, ist eine antiquierte Ansicht, die mit der eidgenössischen Strafprozessordnung schon vor 10 Jahren eine deutliche Abfuhr erhielt. Art. 128 StPO hält klar fest: “Die Verteidigung ist in den Schranken von Gesetz und Standesreglen allein den Interessn der beschuldigten Person verpflichtet.”
Dass sodann unter dem Anspruch, die materielle Wahrheit um jeden Preis herausfinden zu müssen, in den letzten Jahren wiederholt fragwürdige Entscheide getroffen wurden, ist auch deshalb befremdlich, weil das Ziel bloss idealtypisch die Findung der materiellen Wahrheit sein kann, in Realität jedoch bloss die Findung der prozessualen Wahrheit möglich ist. Erstere führt nämlich bei konsequentre Durchsetzung zwangsläufig zu einem Abbau mühvoll erreichter Verfahrensrechte und tendiert wieder in Richtung Inquisitionsprozess. Der stetige (verklausulierte) Ruf nach dem Abbau von Verteidigungsrechten und dem Ausbau von Prozessökonomie bewirkt sicherlich eine Vereinfachung der Arbeit der Justiz. Aber zu welchem Preis?
“Den Grad der Zivilisation einer Gesellschaft kann man am Zustand ihrer Gefangenen ablesen.” (Dostojewski). Dies trifft umso mehr für Beschuldigte in einem Strafverfahren zu, gilt doch jede Person bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig (Art. 10 Abs. 1 StPO).
Sie Suche nach der materiellen Wahrheit sollte aber das Ziel bleiben. Ihr Kommentar wirkt so, als würden Sie sich mit einer formellen oder prozessualen Wahrheit zufrieden geben, einzig mit der idealistischen Überlegung “mühvoll erreichte Verfahrensrechte” zu erhalten. Dabei geht vergessen, dass der Beschuldigte oft nicht der einzige Beteiligte in einem Strafprozess ist und es auch noch Opfer und Geschädigte gibt. Für das Opfer ist es ein Hohn, wenn der Täter wegen formalistischer Fehler freigesprochen wird. Und damit meine ich nicht, dass wir zu einem Inquisitionsprozess zurück sollen. Aber wenn wir den Strafprozess derart erschweren, dass eine Erforschung der materiellen Wahrheitsfindung nicht mehr möglich ist, dann kann das Strafrecht seine gesellschaftlichen Funktionen nicht mehr erfüllen.
Wenn man das Zitat von Dostojewski schon auf den Strafprozess ausweiten will, warum nur auf die beschuldigte Person und nicht auch auf die Opfer?
@Thomas Lieven: Die materielle Wahrheit steht nicht über allem. Sonst gäbe es bspw. kein Schweigerecht, keine Zeugnisverweigerungsrechte oder Beweisverwertungsverbote. Jede Wahrheitsfindung ist auf einen geregelten Prozess angewiesen, der die Regeln definieren muss. Ich wüsste nicht, wie man Wahrheit sonst finden könnte. Ausser natürlich, man akzeptiert Instanzen, die sie voraussetzungslos kennen.