Notwendige Verteidigung und Widerrufsverfahren
Manchmal übersehe ich in der Eile der Entstehung meiner Beiträge wesentliche Fragen. Ich hoffe, dies ist auch bei den folgenden Bemerkungen zu einem heute publizierten Entscheid so (BGer 1B_314/2015 vom 23.10.2015), der auf die Shortlist der Fehlentscheide des Jahres gehört (ausser eben ich übersehe was).
In einem Strafverfahren, das mit einem Widerrufsverfahren verknüpft wird, droht zumindest theoretisch immer ein unbedingter Vollzug der früheren Strafe und ein unbedingter Vollzug der neuen Strafe. Angesichts dessen kann eigentlich kaum begründet werden, dass für die Frage der notwendigen Verteidigung die Dauer des unbedingten Vollzugs beider Strafen nicht zusammenzuzählen ist.
Das ist auch die soweit ungeteilte Meinung der Lehre. Die ist aber gemäss einem neuen Entscheid derart offensichtlich falsch, dass es eine Beschwerde als aussichtslos qualifiziert hat
In der Lehre wird die Meinung vertreten, dass wenn der Widerruf einer bedingten Vorstrafe oder einer bedingten Entlassung in Frage kommt, die Dauer der jeweiligen Sanktionen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Umrechnungssätze nach Art. 36 Abs. 1 und Art. 39 Abs. 2 StGB, zusammenzuzählen sind (vgl. NIKLAUS RUCKSTUHL, in: Basler Kommentar zur StPO, 2. Aufl. 2014, N. 42 zu Art. 132; VIKTOR LIEBER, in: Kommentar zur StPO, 2. Aufl. 2014, N. 18 zu Art. 132; Niklaus Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013, N. 743). Das Bundesgericht berücksichtigt im Rahmen der notwendigen Verteidigung nach Art. 130 lit. b StPO ebenfalls ein drohender Widerruf bedingt ausgefällter Freiheitsstrafen (BGE 129 I 281 E. 4.1 S. 285 f.), wobei es aber eine Anwendung der Umrechnungssätze ausschliesst (Urteil 1B_444/2013 vom 31. Januar 2014 E. 2.1). Im Gegensatz dazu, wurde die Beschwerdeführerin hier hinsichtlich der ihr mit Strafbefehl vom 4. November 2014 auferlegten bedingten Geldstrafe lediglich verwarnt, weshalb diese nach den erwähnten Auffassungen bei der Beurteilung des Bagatellfalls nicht mitberücksichtigt werden kann. Dass der Beschwerdeführerin aufgrund der Verwarnung bei einer erneuten Verfehlung der Widerruf der bedingten Geldstrafe droht, vermag nicht zu rechtfertigen, dass diese im vorliegenden Verfahren zu beachten ist. Vielmehr ist darüber in einem allfälligen künftigen Strafverfahren zu befinden und die Geldstrafe dort zu berücksichtigen. Insofern liegt mit der mit Strafbefehl vom 1. April 2015 ausgefällten unbedingten Geldstrafe ein Bagatellfall im Sinne von Art. 132 Abs. 3 StPO vor (E. 3.3, Hervorhebung durch mich).
Abgesehen von den sprachlichen Unzulänglichkeiten erscheint mit der Entscheid auch im Ergebnis als unhaltbar, etwa weil er die Frage der notwendigen Verteidigung vom Ergebnis des Verfahrens abhängig macht und – bei einer Verwarnung – das künftige Verfahren präjudiziert, indem die Verwarnung rechtskräftig wird und von der künftigen Verteidigung nicht mehr thematisiert werden kann.
Sie machen zuerst einmal ein Durcheinander zwischen amtlicher Verteidigung im Sinne von 132 Abs. 1 lit. b und notwendiger (amtlicher) Verteidigung im Sinne von 132 Abs. 1 lit. a StPO. Hier ging es nicht um eine notwendige Verteidigung, sondern lediglich um eine amtliche im Sinne von Art. 132 Abs. 1 lit. b (zumindest in den von Ihnen kritisierten Erwägungen).
Das Bundesgericht hält nun fest und dies ist (für mich) die einzig relevante Erkenntnis dieses Urteils, dass ein Widerruf bei lediglich einer Verwarnung im Strafbefehlsverfahren gerade nicht droht und deshalb nicht mit der neu ausgesprochenen Strafe zusammenzuzählen ist. Es tut dies wohl vor allem deshalb, weil ansonsten bei einer Vorstrafe von über 6 Monaten bei einem neuerlichen kleineren (strafbefehlswürdigen) Vergehen, ein Strafbefehl gerade nicht mehr ausgefällt werden könnte (weil dann die Grenze der Strafbefehlskompetenz von 180 Tagessätzen übertroffen wäre).