Nulla poena …
Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB). Wie wichtig dieser Grundsatz ist, zeigt die Rechtsprechung des Bundesgerichts eindrücklich. Musterbeispiel ist weiterhin BGE 138 IV 13 (Nacktwandern).
Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst entschieden, dass die Bestimmtheitsanforderungen an eine Strafnorm aus mehreren Gründen wichtig sind und wieso man sie nicht leichtfertig bejahen sollte (BVerfG, 2 BvL 1/15, Beschluss vom 21.09.2016). Hier ein Auszug aus der Pressemitteilung, die hoffentlich auch unser Bundesgericht zur Kenntnis nimmt:
Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Dadurch soll zum einen sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selbst über die Strafbarkeit entscheidet. Zum anderen hat Art. 103 Abs. 2 GG auch eine freiheitsgewährleistende Funktion. Jeder Teilnehmer am Rechtsverkehr soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist.
Das Bundesverwaltungsgericht eruiert die Straftatbestände hingegen im Bereich des in seine Zuständigkeit fallenden Nebenstrafrechts (dazu zähle ich auch die kartellrechtlichen Sanktionen) gestützt auf Interessenabwägungen. Auch extensive Auslegungen sind für das BVGer kein Problem (etwa im Bereich der Kernbeschränkungen nach Art. 5 Abs. 3 und 4 KG). Die strafrechtlichen Grundsätze kommen aus Sicht des BVGer auch nur zur Anwendung, soweit eine Abwägung aller involvierter Interessen nicht dagegen spricht.
https://gwendolan.wordpress.com/2016/10/27/verwaltungsrechtler-und-strafrechtler/
Die heutige Tendenz geht auf eine Sanktionierung post festum hinaus, da sich die Allgemeinheit gegenwärtig offenbar bei schwierigeren Tatbeständen nicht im Klaren ist, ob und was sanktioniert werden soll.
Der Grundsatz nulla poena sine lege stellt eine wesentliche Errungenschaft der Aufklärung dar, was heute zunehmend vergessen geht. Gegen das Vergessen sei Paul Johann Anselm Feuerbach zitiert, der diesen Grundsatz in seinem 1801 erschienenen Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts – soweit ersichtlich zumindest im deutschen Sprachraum als erster Rechtsgelehrter – wie folgt statuiert hat:
„III. Höchste Principien des peinlichen Rechts.
§ 19.
Aus obiger Deduction ergiebt sich folgendes höchste Princip des peinl. Rechts: Jede rechtliche Strafe im Staate ist die rechtliche Folge eines, durch die Nothwendigkeit der Erhaltung äusserer Rechte begründeten, und eine Rechtsverletzung mit einem sinnlichen Uebel bedrohenden Gesetzes.
§ 20.
Hieraus fliessen folgende, keiner Ausnahme unterworfenen, untergeordneten Grundsätze:
I) Jede Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus (Nulla poena sine lege.) Denn lediglich die Androhung des Uebels durch das Gesetz begründet den Begriff und die rechtliche Möglichkeit einer Strafe.
II) Die Zufügung einer Strafe ist bedingt durch das Daseyn der bedrohten Handlung. (Nulla poena sine crimine.) Denn durch das Gesetz ist die gedrohte Strafe an die That, als rechtlich nothwendige Voraussetzung, geknüpft.
III) Die gesetzlich bedrohte That (die gesetzliche Voraussetzung) ist bedingt durch die gesetzliche Strafe. (Nullum crimen sine poena legali.) Denn durch das Gesetz wird an die bestimmte Rechtsverletzung das Uebel als eine nothwendige rechtliche Folge geknüpft.“
(Paul Johann Anselm Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 13. Originalausgabe, Giessen 1840, S. 40.)