Obergericht AG: Systematische Verletzung von Bundesrecht
Erneut wird das Obergericht AG vom Bundesgericht darauf hingewiesen, dass ein schriftliches Berufungsverfahren nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen zulässig ist (BGer 6B_606/2018 vom 12.07.2019).
Nicht zulässig ist das schriftliche Berufungsverfahren etwa in bedeutenden Verfahren (Art. 406 Abs. 1 StPO):
Ist eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme beantragt oder zu erwarten, liegt aufgrund der Schwere der Sanktion ein Fall notwendiger Verteidigung vor (vgl. Art. 130 lit. b StPO). Es handelt sich um so bedeutende Verfahren, die nach der gesetzlichen Konzeption die Anwesenheit der Staatsanwaltschaft und unter dem Aspekt eines fairen Verfahrens die Durchführung einer öffentlichen Berufungsverhandlung erfordern (vgl. Art. 405 Abs. 3 lit. a StPO; LUZIUS EUGSTER, a.a.O, N. 3 zu Art. 405 StPO) [E. 3.4].
Das hat das Obergericht auch gesehen. Es hat dann das schriftliche Verfahren auf Art. 406 Abs. 2 StPO stützen wollen, was nun aber offensichtlich rechtswidrig war:
Das Vorliegen der Voraussetzungen zur Durchführung des schriftlichen Berufungsverfahrens nach Art. 406 Abs. 1 StPO hat die Vorinstanz zutreffenderweise (implizit) verneint. Dass sie hingegen das schriftliche Berufungsverfahren gemäss Art. 406 Abs. 2 StPO in Erwägung zieht und sogar darauf hinwirkt, ist nicht nachvollziehbar. Die Vorinstanz verkennt respektive ignoriert, dass keine der gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 406 Abs. 2 StPO gegeben ist, unter denen ein schriftliches Berufungsverfahren ausnahmsweise durchgeführt werden kann (E. 3.5, Hervorhebungen durch mich).
Die weiteren Erwägungen des Bundesgerichts sind an Klarheit nicht zu überbieten:
Indem sie die Parteien systematisch zur Erklärung über deren Einverständnis zur Durchführung des schriftlichen Berufungsverfahrens auffordert und aktiv darauf hinwirkt, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 406 Abs. 2 lit. a und lit. b StPO klarerweise nicht gegeben sind, setzt sie sich bewusst über den Willen des Gesetzgebers und die zum Mündlichkeitsprinzip des Berufungsverfahrens ergangene bundesgerichtliche Rechtsprechung hinweg (E. 3.5.3. Hervorhebungen durch mich).
Dass das schriftliche Berufungsverfahren vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung im Kanton Aargau offenbar eine „gewissen Gerichtstradition“ besass und die Verfahrensleitung sich von der Durchführung des schriftlichen Berufungsverfahrens „gewisse Vorteile gegenüber dem mündlichen Verfahren verspricht“, rechtfertigt keine Umkehr der gesetzlich vorgeschriebenen Regel-Ausnahme-Konzeption (so aber offenbar: JANN SIX, a.a.O., S. 425). Mit der Vereinheitlichung des Strafprozessrechts sollen nach dem Willen des Gesetzgebers „Straftaten künftig für die ganze Schweiz nicht mehr nur einheitlich umschrieben, sondern auch nach denselben prozessualen Regeln verfolgt und beurteilt werden“, da materielles und formelles Strafrecht oft untrennbar zusammenhängen und beides daher so gut wie möglich aufeinander abgestimmt sein muss (BBl 2006 1097 Ziff. 1.3.2). Dies gilt auch für die Vorinstanz und den Kanton Aargau (E. 3.5.3, Hervorhebungen durch mich).
Der Fall geht nun zurück an das Obergericht, das eine mündliche Verhandlung durchführen muss, sofern die Parteien ihre Rechtsmittel nicht zurückziehen, was ihnen das Bundesgericht nahezulegen scheint:
Soweit die Parteien ihre Rechtsmittel nicht zurückziehen, wird die Vorinstanz mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 406 StPO eine mündliche Hauptverhandlung durchführen müssen, um die Berufung und Anschlussberufung behandeln zu können. Der reformatorische Antrag des Beschwerdeführers, er sei (durch das Bundesgericht) mit einer Freiheitssstrafe von höchstens 18 Monaten unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs mit einer Probezeit von 2 Jahren und einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen in Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils zu verurteilen, ist aufgrund der Rückweisung der Sache an die Vorinstanz nicht weiter zu behandeln (E. 4).
Unabhängig vom Fortgang des Strafverfahrens fragt man sich, wie lange sich das Obergericht weiterhin offen gegen das Gesetz und die bundesgerichtliche Rechtsprechung stellen will und kann.
Vielen Dank für den Beitrag. Als Aargauer. welcher unser Gerichtswesen seit Jahren mit interesse verfolgt. verwundert mich überhaupt nichts mehr in unserem Kanton. Unlängst habe ich in diversen Leserbriefen jedem empfohlen, falls nötig, seine Strafsache bis vor das Bundesgericht zu ziehen.
Ob das ein weiser Rat ist? Weist das Bundesgericht eine Sache aus prozessualen Gründen zurück, bedeutet das nicht, dass der Beschuldigte im Ergebnis besser wegkommt. Wenn man die geringe Quote an Gutheissungen von Beschwerden des Bundesgericht anschaut, empfiehlt sich ein Weiterzug eigentlich nicht. Aber Sie wissen das aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung bestimmt besser. Sie würden es sicher auch viel besser machen als die Richter- und Richterinnen der Bezirks- und Obergerichte im Kanton Aargau.
Ein heldenhafter Entscheid des Bundesgerichts, das die Parteien komplett entmündigt. Wieso soll die beschuldigte Person nicht auf eine Berufungsverhandlung verzichten können? Das kann und darf sie auch gemäss EMRK und auch nach Art. 406 Abs. 2 StPO. Nur weil die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung erhoben hat, soll das nicht gehen? Eine Dreierbesetzung des Bundesgerichts findet nun plötzlich heraus, dass das bundesrechtswidrig sein soll und beanstandet das, obwohl gar nicht gerügt, und obwohl es seit Inkrafttreten der StPO mit Sicherheit eine ganze Anzahl von Fällen gegeben hat, die trotz Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft im schriftlichen Verfahren entschieden worden sind.
Die Menschen sind nicht perfekt. Das Obergericht des Kanton Aargau war aber schon öfters in der Kritik durch das Bundesgericht. Offenbar ist die Fehlerquote dort hoch, oder wir haben eitles und verbohrtes Personal da. Es wäre wahrscheinlich durchaus sinnvoll, die Kompetenzen, bzw. Eignung des betreffenden Personals zu hinterfragen. Als Bürger micht mir das eher Angst. Bekomme ich heutzutage wirklich noch eine faire und kompetente Rechtssprechung? Oder nur noch Willkür, wie es das Obergericht gerade will?
@Andi: Hier geht es allein darum, dass sich ein kantonales Gericht nicht vorschreiben lassen will, wie es das Bundesrecht anzuwenden hat. Es missachtet die Rechtsprechung des Bundesgerichts, und zwar ganz offen.
Naja, dass Berufungen im schriftlichen Verfahren nicht zulässigen sein sollen, weil die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung erhoben hat, wurde so vom Bundesgericht früher doch noch nie entschieden. Es war in diesem Fall ja nicht etwa so, dass die Parteien eine Berufungsverhandlung gewollt hätten. Das Obergericht Aargau hat meines Wissens noch nie das schriftliche Berufungsverfahren durchgeführt, wenn eine beschuldigte Person das wollte. Nun dann wird wohl auch im Aargau inskünftig mehr aus im voraus geschriebenen Plädoyers vorgelesen werden. Frei plädierende Anwälte sind leider Mangelware.
Völlig frei plädieren ist nicht möglich, weil die Plädoyers unmittelbar an das Beweisverfahren anschliessen. Aber einfach den vorfabrizierten Text wörtlich abzulesen, halte ich jedenfalls dann für völlig unwirksam, wenn ein das Beweisverfahren wenigstens teilweise unmittelbar war. Das Problem ist ja hier aber nicht das Plädieren, sondern die Frage, wie sich ein Richter seine Überzeugung bildet; aufgrund der Akten oder aufgrund einer eigenen Beweisaufnahme.
@ kj:
„Das Problem ist ja hier aber nicht das Plädieren, sondern die Frage, wie sich ein Richter seine Überzeugung bildet; aufgrund der Akten oder aufgrund einer eigenen Beweisaufnahme.“
Da kommt es doch stark darauf an, über was Beweis abgenommen werden soll. Geht es z.B. um eine Prognose, bei der auch die aktuellen Umstände von Bedeutung sind, ist die unmittelbare Beweisabnahme in einer Verhandlung sachgerecht und zielführend (auch wenn alle zu erhebenden Angaben freilich auch schriftlich eingereicht werden können). Geht es hingegen um die Beurteilung eines Vorfalls, der sich schon mehrere Jahre zuvor zugetragen hat, wäre es nicht sehr seriös, wenn sich ein Richter nur auf das unmittelbar Gehörte verlassen würde und gestützt darauf zu Gunsten oder zum Nachteil der beschuldigten Person entscheiden würde. Massgebend sind in ganz hohem Mass die tatnahen Aussagen. Und diese sind in den Akten enthalten. Es sollte doch nicht sein, dass eine beschuldigte Person schuldig oder freigesprochen wird, weil sie einen schlechten oder einen guten Eindruck an der Berufungsverhandlung hinterlassen hat. Hätten wir das deutsche System, bei dem bereits kurz nach der mutmasslichen Tat Anklage erhoben wird und es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, würde es freilich anders aussehen. Gibt es in der Schweiz in Indizienprozessen Berufungsverfahren die vor 2 bis 3 Jahren vor dem Kantonsgericht verhandelt werden? Vielleicht in Nidwalden?
Genau so sehe ich das auch. Einziger Vorbehalt: Tatnahe Aussagen sind nicht unbedingt beweiskräftiger, v.a. wenn man ihr Zustandekommen nicht kennt. Zudem: beurteilt werden ja nicht die Aussagen, sondern die Protokolle. Und die sind in vielen Fällen als Beweismittel untauglich, was der Richter dem Protokoll meistens nicht ansieht.
@andi: die gerichte sind eben unabhängig, auch die unteren. Siehe übrigens das versicherungsgericht st. Gallen. Dies missachtet regelmässig und konstant die rechtsprechung des bundesgerichts. Allerdings zugunsten der versicherten. Die arme iv-stelle muss regelmässig beschwerde führen und obsiegt.
Das Obergericht des Kantons Aargau ist vielleicht in diesem Blog öfters in der Kritik. Es gibt wohl kaum einen Entscheid aus dem Aargau, der vom Bundesgericht bemängelt worden ist, der hier nicht erwähnt worden wäre. Das darf der Blog ja auch. Es ist aber schon auch so, dass über Beschwerden gegen Entscheide aus dem Kanton Aargau, die das Bundesgericht abweist, ohne Not nicht berichtet wird.
Haben Sie gewusst (kann man alles im Internet abrufen, besser als zu behaupten): Das Strafgericht des Obergerichts hat letztes Jahr rund 700 Fälle entschieden. Der Fall Rupperswil war nur einer davon. Vom Bundesgericht sind 18 Fälle bzw. keine 3 % ganz oder teilweise nicht bestätigt worden. Natürlich wurden nicht alle 700 Fälle weitergezogen. Aber es zeigt doch, dass das Personal so schlecht, wie Sie meinen, wohl doch nicht ist.
Interessant übrigens: Wenn das Bundesgericht die jährlichen Rückweisungsquoten bekannt gibt, wird jeweils moniert, dass dies ein Zeichen fehlenden Rechtsschutzes ist. Es wird ausgeführt, es würden zu wenig (!) Beschwerden gutgeheissen. Und wenn eine Beschwerde gutgeheissen wird, dann ist es dann aber auch wieder nicht recht…
Die Lösung wäre da vielleicht das „Basler-Modell“. In den Kantonen BS und BL wird praxisgemäss immer die Gelegenheit einer (freiwilligen) schriftlichen Berufungsbegründung eingeräumt. Eine mündliche Verhandlung folgt darauf jedoch immer noch. Das ergibt das Beste aus beiden Welten: Die Vorteile des schriftlichen Verfahrens (falsch gewünscht) und die Unmittelbarkeit des mündlichen Verfahrens gemäss StPO. Auch diese Konzeption ist streng genommen nicht StPO konform, aber who cares.
„Gemäss Art. 405 Abs. 3 StPO lädt die Verfahrensleitung die Staatsanwaltschaft zur Verhandlung namentlich vor, wenn diese eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme beantragt (E3.1)“. Dies stimmt schon, gilt aber aber nur für mündliche Berufungsverfahren (das steht im Titel des Artikels).
Die zulässige Schlussfolgerung lautet somit: „Befindet sie sich in einem mündlichen Berufungsverfahren, und beantragt die Staatsantwltschaft eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme, so ist die Staatsanwaltschaft namentlich zur Verhandlung vorzuladen“, und nicht: „Beantragt die Staatsantwltschaft eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme, so ist die Staatsanwaltschaft namentlich zur Verhandlung vorzuladen, und das Verfahren ist mündlich durchzuführen.“
Das Bundesgericht scheint die Voraussetzungen für das mündliche und das schriftliche Verfahren miteinander zu vermischen und aus dem einen Folgen für das andere abzuleiten. Das hat etwas Willkürliches. Kürzlich hat das Bundesgericht noch entschieden (6B_1293/2018 vom 14. März 2019), dass es kein Problem sei, wenn das Berufungsgericht bei unentschuldigter Abwesenheit des Beschuldigten (aber Anwesenheit der Verteidigung) das Verfahren einfach ohne den Beschuldigten durchführt. Es scheint den Beschuldigten somit doch nicht immer zu brauchen… Wenn er aber nicht erscheinen will und dem schriftlichen Verfahren zustimmt, dann soll das nicht gehen? Wo ist denn der Unterschied (wenn keine Zeugen einvernommen werden) zwischen einem schriftlichen Verfahren im Einverständnis der Parteien und einem mündlichen Verfahren, bei welchem der Beschuldigte mangels Anwesenheit nicht befragt wird und der Verteidiger das vorbringt, was er sonst schriftlichen eingereicht hätte? Konsequenterweise müsste das Bundesgericht, wenn es ausführt, es könne einem schriftlichen Verfahren im Falle der Berufung oder Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft oder in gewissen beweismässig umstrittenen Fällen gar nicht zugestimmt werden, auch urteilen, dass dann das Abwesenheitsverfahren im mündlichen Berufungsverfahren nicht geht.
Auch im Kanton Schaffhausen sieht es nicht besser aus. Hier wird man einfach unschuldig verurteilt.Jemand behauptete ich habe Kinder angefahren mit dem Auto obwohl das absolut nicht stimmte. Ich habe alle Beweise gebracht und die Staatsanwaltschaft war so doof und hielt an dem Strafbefehl fest. Jetzt bin ich auch schon im Berufungsverfahren und werde das noch bis vor Bundesgericht ziehen. Diese Geschichte ist schon fast drei Jahre am laufen. Eigentlich sollte es bald verjährt sein auch wenn das Kantonsgericht schon gewesen war und auch noch diesen Seich glaubte.
Nach meinen Wissen, falls Sie ein Urteil der 1 Instanz schon zugestellt bekommen haben (und damit ist nicht ein staatsanwaltlicher Entscheid gemeint), kann die Verfolgungsverjährung nicht mehr eintreten.
https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19370083/index.html
Verfolgungsverjährung
1 Die Strafverfolgung verjährt, wenn die für die Tat angedrohte Höchststrafe:
a. lebenslängliche Freiheitsstrafe ist: in 30 Jahren;
b. eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren ist: in 15 Jahren;
c. eine Freiheitsstrafe von drei Jahren ist: in 10 Jahren;
d. eine andere Strafe ist: in 7 Jahren.1
…
3 Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen, so tritt die Verjährung nicht mehr ein.
Auch wenn die Verfolgungsverjährung nicht mehr eintreten kann, können sie doch mich nicht Jahre lang mit etwas Belasten. Es gibt kein Privatkläger und gar nichts, deswegen verstehe ich es nicht was die Staatsanwaltschaft davon hat mich noch lange zu ärgern. Da käme dann noch das Strassenverkehrsamt und ich
müsste unschuldig für 3 Monate den Führerausweis abgeben. Aber eigentlich würde das auch keinen Sinn machen nach so langer Zeit. Ich weiss auch bald mir nicht mehr zu helfen, wie ich es ihnen noch klarer machen kann das nichts geschehen war, ich hatte jene Beweismittel und die Staatsanwaltschaft hat gar nichts, ausser eine Lügegeschichte von 1 Person.