Obligatorische Befristung der vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft
Im Kanton BS wurde eine stationäre Massnahme verlängert, nachdem die Maximaldauer – wie so oft – bereits abgelaufen war. Um den Betroffenen nicht entlassen zu müssen, ordnete der zuständige Richter – ebenfalls wie üblich – Sicherheitshaft an. Dass es für eine solche vollzugsrechtliche Sicherheitshaft (noch) keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage gab (vgl. seit 1.3.2021 nun aber Art. 364a f. StPO), störte das Bundesgericht unter Hinweis auf seine gesetzgebende eigene Praxis nicht (vgl. statt vieler meinen früheren Beitrag). Hingegen hat es dem Beschwerdeführer insofern Recht gegeben, als die vollzugsrechtliche Sicherheitshaft zu befristen ist (BGer 1B_96/2021 vom 25.03.2021, Fünferbesetzung).:
Gemäss Art. 227 Abs. 7 StPO wird die Verlängerung der Untersuchungshaft jeweils für längstens drei Monate, in Ausnahmefällen für längstens sechs Monate bewilligt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts erfolgt indes mangels Verweises in den Art. 231 f. StPO auf diese Bestimmung keine periodische Überprüfung der Sicherheitshaft, sobald das Berufungsgericht mit der Sache befasst ist. Dieses kann Sicherheitshaft bis zum Berufungsurteil anordnen. Die inhaftierte Person kann gestützt auf Art. 233 StPO jederzeit ein Haftentlassungsgesuch stellen (BGE 139 IV 186 E. 2.2.3 S. 189 ff.; Urteil 1B_461/ 2020 vom 14. Oktober 2020 E. 7). Vorliegend handelt es sich zwar ebenfalls um ein Verfahren vor der zweiten Instanz. Die Ausgangslage bei der vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft ist indes nicht vergleichbar mit der normalen Anordnung von Sicherheitshaft vor dem Berufungsgericht. Für die vollzugsrechtliche Sicherheitshaft fehlt eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage; die Haft ist bloss gestützt auf eine analoge Anwendung der Bestimmungen von Art. 221 ff. StPO zulässig (vgl. E. 3.2 hiervor). Die prozessualen Bestimmungen zum Schutz der inhaftierten Personen sind deshalb strikt einzuhalten. Art. 227 Abs. 7 StPO bezweckt, durch die regelmässige Überprüfung der materiellen Voraussetzungen der Haft deren ungerechtfertigte Verlängerung zu verhindern. Diese Überlegung rechtfertigt sich auch in selbstständigen massnahmenrechtlichen Nachverfahren und erscheint im hier zu beurteilenden Fall, in welchem die Dauer der stationären Massnahme diejenige der ursprünglich angeordneten Freiheitsstrafe bereits überschritten hat, besonders wichtig. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist in solchen Fällen eine periodische Haftprüfung im Sinne von Art. 227 Abs. 7 StPO geboten (E. 5.2, Hervorhebungen durch mich).
Dass die prozessualen Bestimmungen zum Schutz der inhaftierten Person “strikt einzuhalten” sind, hindert das Bundesgericht nicht daran, die vollzugsrechtliche Sicherheitshaft gestützt auf die analoge Anwendung der Bestimmungen über die prozessuale Haft zu stützen. Das prozessuale Analogieverbot wird nicht erwähnt.
Das Bundesgericht lässt übrigens ausdrücklich offen, wie die Sache unter dem neuen Recht (Art. 364a f. StPO) zu beurteilen sein wird.
Wieder die übliche CH Mentalität : Die Rüge war berechtig und sicherlich nötig. Hingegen können wir trotzdem an den konkreten Umständen nichts ändern :-). Ginge es noch ironischer und noch arroganter ?
In wie fern ist es eigentlich der Prozessökonomie die für das ganze Verwarungswesen gilt, wenn das BGE derartige Fragen immer offen lässt die es nicht zwingen beantworten muss ?
Das führt ja dazu das dann ein anderen den Gerichtsweg verstopfen muss und die Prozessrisiken auf sich zu nehmen hat, damit diese Frage dann nochmals unterbreitet werden kann (vorausgesetzt man findet keine Formfehler und kann den Entscheid desshalb schon aufheben oder an der qualifizierten Rüge scheitern zu lassen) dann muss man sich wahlweise gar nicht damit beschäftigen…
Aber was ist die Idee die damit verfolgt wird ? Arbeitsbeschaffung ? Rechtsgleichheit ? Alles müssen finanziell bluten um Rechtsfragen klären zu lassen ?
Beim Klären von Rechtsfragen die nicht für den betreffenden Fall nicht zwingend nötig sind verfügt das BGer nun Mal über “freies Ermessen”. Aber klar es wäre durchaus wünschenswert wenn man vom höchsten Gericht etwas häufiger ein obiter dictum lesen dürfte…
Man muss aber schon rein aufgrund der hohen Arbeitslast (insb. der strafrechtlichen Abteilung) etwas nachsichtig sein. Hinzu kommt, dass obiter dicta, weil sie bloss abstrakte, theoretische Ausführungen sind, nicht immer gut durchdacht und fundiert sind und es deshalb ggf. sogar besser sein kann, wenn sie unterlassen werden.
Weiter ist das BGer natürlich nicht zu vergleichen mit einem (deutschen) Bundesverfassungsgericht, dessen Leiturteile viel ausführlicher begründet werden und auch gerne Mal 150 Seiten lang sind.
Danke für die Ausführungen. Insoweit selbst für mich als juristischer Laie nachvollziehbar das die Behandlung dieser Rechtsfragen ohne konkrete Anwendung dann noch mehr in der Luft hängen auf welche Fälle diese Ausführungen nun anwendbar sind und ggf im Endeffekt sogar noch zu mehr Beschwerden führen.
Es ist ja heute schon oft so das man lesen kann: das der zitierte Fall nicht auf den vorliegenden Übertragbar sei, diese wäre dann bei losgelösten Rechtsfragen wohl noch viel häufiger der Fall…
@Tom: Wenn keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für die Haftverlängerung besteht und das prozessuale Analogieverbot bei Grundrechtseingriffen gilt (https://www.strafprozess.ch/wir-sind-das-gesetz-2/), dann ist die vollzugsrechtliche Sicherheitshaft rechtswidrig. Punkt.
Und das freie Ermessen des Bundesgerichts gilt nur innerhalb rechtlicher Schranken.
Wenn sie dann aufgrund der ach so hohen Arbeitsbelastung der Bundesrichter auch noch nachsichtig sein wollen, kommen mir gleich die Tränen. Dem Betroffenen, der illegal in Haft sitzt, vermutlich auch. Fehlt nur noch ein Spendenaufruf für rechtlich korrekte Bundesgerichtsurteile.
Dass die prozessualen Bestimmungen zum Schutz der inhaftierten Person “strikt einzuhalten” sind, ist ein zynischer und untauglicher Versuch des Bundesgerichts, die illegale Sicherheitshaft zu rechtfertigen. Es bringt dem Häftling ja nichts, periodisch um Haftentlassung zu ersuchen, wenn das Bundesgericht diese mit derselben rechtswidrigen Begründung jeweils abweist.
Das mag alles stimmen was Sie sagen, ich habe mich inhaltlich auch nicht zu diesem Fall geäussert, wie Sie durch eine sorgfältige Lektüre meines Kommentars feststellen könnten.
Ich habe lediglich allgemein festgehalten, dass WENN (und nur dann!) eine Rechtsfrage im Raum steht, die für den vorliegenden Fall nicht von Bedeutung ist, es im freien Ermessen des Gerichts steht, diese auch noch (zusätzlich) in einem obiter dictum im Sinne der Rechtsfortbildung/Rechtssicherheit zu behandeln. Und dann habe ich ausgeführt, dass obiter ditca m.E. nicht immer nur positiv sein müssen.
Schliesslich habe ich gefolgert, dass man der strafrechtlichen Abteilung aufgrund ihrer sehr hohen Arbeitsbelastung (die übrigens von keiner Seite bestritten wird) keinen Vorwurf machen kann, wenn sie sich dann halt mit obiter dicta (die ggf. wünschenswert wären) zurückhaltend zeigt, um hier etwas Zeit zu sparen.