Ohne Anklage verurteilt

Das Bundesgericht kassiert ein Urteil, das einen Beschuldigten für einen Vorhalt bestrafte, der ihm gar nicht zur Last gelegt worden war (BGer 6B_572/2010 vom 18.11.2010). Vorgeworfen war ihm der Besitz verbotener Pornografie, verurteilt wurde er wegen Herstellens verbotener Pornografie:

Die Vorinstanz geht übereinstimmend mit der ersten Instanz in tatsächlicher Hinsicht davon aus, der Beschwerdeführer habe die nicht das Opfer betreffenden pornografischen Fotografien bewusst und gezielt aus dem Internet auf seine Festplatte heruntergeladen. Die Vorinstanz weicht damit vom Sachverhalt gemäss der Anklage ab, worin ihm lediglich der Besitz vorgeworfen und ausdrücklich festgehalten wird, ihm könne nicht nachgewiesen werden, dass er die fraglichen Fotografien bewusst heruntergeladen habe. Die Vorinstanz geht damit zu Lasten des Beschwerdeführers von einem Sachverhalt aus, welcher ihm in der Anklageschrift gerade nicht vorgeworfen wird. Sie verletzt dadurch gemäss den zutreffenden Vorbringen des Beschwerdeführers den Anklagegrundsatz. Die Beschwerde ist in diesem Punkt gutzuheissen (E. 2.6).

Der Entscheid demonstriert, wie wichtig es ist, die Anklage genau zu analysieren. Die Verteidiger tun dies bisweilen (und werden dafür als Formalisten kritisiert). Die Richter unterlassen es – wie dieser Fall zeigt – allzu oft, obwohl sie von Amts wegen festzustellen haben, was eigentlich genau Gegenstand des Verfahrens ist. Ein von allen Beteiligten konsequent gehandhabtes Anklageprinzip würde viel dazu beitragen, dem modernen Anklageprozess endlich auch in der Schweiz gerecht zu werden. Es würde die Ankläger zwingen, sich sehr genau zu überlegen, wie der Sachverhalt in der Anklage darzustellen ist. Insofern hat der Anklagegrundsatz eben auch eine “Erziehungsfunktion”, die leider in der Lehre kaum gewürdigt wird.