Ohne Anwalt zu 3.5 Jahren verurteilt

In der Schweiz ist möglich, was in anderen westlichen Demokratien (und in dem meisten Diktaturen) heute undenkbar ist: Im Kanton St. Gallen wurde ein Mann wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von 3.5 Jahren verurteilt. Im Verfahren vor Obergericht war er anwaltlich nicht vertreten, obwohl die Staatsanwaltschaft ebenfalls ein Rechtsmittel gegen das erstinstanzliche Urteil eingereicht hatte.

Der Beschuldigte hatte zwar einen amtlichen Verteidiger, musste diesem aber einen “Selbstbehalt” von CHF 5,000.00 bezahlen. Weil diesen Selbstbehalt nicht bezahlt hat, wurde der Anwalt antragsgemäss aus seinem Mandat entlassen. Ein Jahr nach der Verurteilung ersuchte der Beschuldigte erfolglos um Wideraufnahme. Das Bundesgericht weist die Beschwerde mit der Begründung ab, der Beschwerdeführer habe keinen einzigen Wiederaufnahmegrund geltend gemacht. Damit hätte es die Beschwerde ja eigentlich als aussichtslos qualifizieren müssen. Es bewilligt die unentgeltliche Rechtspflege aber doch (BGer 6B_288/2012 vom 06.12.2012, Fünferbesetzung)

Der Fall wurde nach altem kantonalen Strafprozessrecht beurteilt. Vielleicht hat der Beschwerdeführer halt einfach falsch argumentiert:

Die Bundesverfassung und die EMRK sehen keine über Art. 248 aStP/SG hinausgehenden Wiederaufnahmegründe vor (in diesem Sinn bereits das unveröffentlichte Urteil 6S.100/1997 vom 15. April 1997 E. 2). Im Übrigen muss die Verletzung von Grundrechten klar und substantiiert begründet werden (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 137 IV E. 4.2.3; 136 I E. 1.3.1; je mit Hinweisen), was der Beschwerdeführer unterlassen hat (E. 1.5).

Im Kanton Solothurn wurde ein ähnlicher Fall neu beurteilt mit der Begründung, das Urteil, das trotz notwendiger Verteidigung ohne Anwalt erging, sei nichtig. Es handelte sich allerdings um einen Fall, der nach damaligem kantonalen Recht einer notwendigen Verteidigung bedurfte.