Pishchalnikov in Lausanne angekommen

In einem neuen Urteil (BGer 6B_725/2011 vom 25.06.2012) setzt sich das Bundesgericht soweit ersichtlich erstmals mit Pishchalnikov vs. Russland (s. meinen früheren Beitrag) auseinander. Es schützt die Rüge eines Beschwerdeführers, der vor den polizeilichen Befragungen nicht mit einem Rechtsanwalt sprechen konnte, obwohl er um amtliche Verteidigung ersucht hatte.

Den Sachverhalt stellt das Bundesgericht wie folgt dar:

Nach der Verhaftung des Beschwerdeführers am 28. Januar 2008 befragte ihn die Polizei am Nachmittag des folgenden Tages in Anwesenheit einer Dolmetscherin und belehrte ihn vorgängig über seine Rechte (…). Der Beschwerdeführer bestritt die ihm angelasteten Taten. Als er das Einvernahmeprotokoll unterschreiben sollte, erklärte er, er werde am nächsten Tag die Wahrheit sagen (…). Ihm war zuvor (am Morgen des 29. Januar 2008) die Haft eröffnet worden. An dieser Haftprüfungsverhandlung belehrte ihn die Amtsstatthalterin zunächst über die ihm zustehenden Verfahrensrechte, worauf der Beschwerdeführer angab, er kenne keinen Rechtsanwalt und habe nicht genügend Geld für einen. Er brauche aber einen Verteidiger. Im Haftprüfungsprotokoll wurde vermerkt, dem Beschwerdeführer sei ein amtlicher Verteidiger zu bestellen (…). An den Fortsetzungen der polizeilichen Befragung des Beschwerdeführers vom 30. und 31. Januar 2008, gestand er die versuchte Erpressung (…). Anlässlich der untersuchungsrichterlichen Einvernahme vom 19. August 2008 widerrief er dieses Geständnis (…) [2.3].

Beurteilt wird dieser Sachverhalt so:

Unbestritten ist, dass die polizeilichen Befragungen des Beschwerdeführers erfolgten, bevor ihm Zugang zu einem Rechtsanwalt gewährt worden war. Unbestritten ist ferner, dass er um rechtlichen Beistand ersucht hatte. Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin bedeutet der Protokollvermerk der Amtsstatthalterin vom 29. Januar 2008, dem Beschwerdeführer sei ein amtlicher Verteidiger zu bestellen, nicht, dass ihm tatsächlich ermöglicht wurde, Kontakt zu einem aufzunehmen (…). Die Bestellung des amtlichen Verteidigers für den Beschwerdeführer erfolgte vielmehr erst am 3. April 2008 (Untersuchungsakten Fasz. 9). Die Vorinstanz verurteilt ihn zwar nicht alleine gestützt auf das im Rahmen der polizeilichen Befragungen abgelegte und später widerrufene Geständnis. Sie untermauert den Schuldspruch wegen versuchter Erpressung mit weiteren Indizien. Gleichwohl kommt dem Geständnis im angefochtenen Entscheid aber eine wesentliche Bedeutung zu, da die Vorinstanz auf den vom Beschwerdeführer gestandenen Sachverhalt abstellt (…). Die Beschwerdegegnerin scheint anzunehmen, er habe auf seine Verteidigungsrechte verzichtet, weil er sich in Kenntnis seiner Rechte weiter auf die polizeiliche Befragung eingelassen habe (…). Diese Auffassung steht im Widerspruch zur dargelegten Rechtsprechung des EGMR. Vorliegend verhält es sich wie im Urteil Pishchalnikov vs. Russland. Namentlich lässt sich aus dem Verhalten des Beschwerdeführers kein Verzicht auf die Verteidigungsrechte ableiten, selbst wenn er in Kenntnis seiner Rechte die polizeilichen Fragen weiter beantwortete. Er hatte nach entsprechender Belehrung um rechtlichen Beistand ersucht, und ihm war die Bestellung eines amtlichen Verteidigers zugesichert worden. Es kann nicht die Rede davon sein, er habe die Folgen seines Verhaltens angemessen vorhergesehen. Insbesondere kann ihm nicht unterstellt werden, er sei sich im Klaren darüber gewesen, aufgrund seiner weiteren Aussagebereitschaft oder seines Geständnisses könne darauf geschlossen werden, er verzichte auf seine Verteidigungsrechte, bevor ihm tatsächlich Zugang zu einem Verteidiger gewährt wurde. Alleine weil er kundtat, er werde am nächsten Tag die Wahrheit sagen, kann nicht davon ausgegangen werden, er habe die polizeiliche Einvernahme aus eigener Initiative und bewusst vor dem Zugang zu einem Verteidiger weiter geführt.
Die Beschwerde erweist sich als begründet. Damit ist auf die übrigen Vorbringen des Beschwerdeführers nicht weiter einzugehen (E. 2.3).