Polizei c. Staatsanwaltschaft
Das Verhältnis zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft ist in verschiedenen Kantonen nicht unbelastet. Erfahrene Kriminalpolizisten haben verständlicherweise Mühe, wenn ihnen von einem jungen Staatsanwalt ohne jede Praxiserfahrung (die auch nicht durch den deutlich höheren Lohn kompensiert wird) gesagt wird, was zu tun ist.
Der Konflikt kann dadurch gelöst werden, dass die Staatsanwaltschaft einfach alles an die Polizei delegiert und selbst de facto gar nicht mehr untersucht. Einer Gerichtspräsidentin im Kanton Aargau ging dies zu weit. Sie wies eine Anklage zurück und verlangte, dass die Staatsanwaltschaft zumindest eine Schlusseinvernahme durchzuführen habe. Dagegen beschwerte sich die Staatsanwaltschaft mit Erfolg. Der entsprechende Entscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts AG ist in forumpoenale 4/2012, 220 abgedruckt. Die fp-Regeste lautet wie folgt:
Art. 311 Abs. 1, 312, 329 Abs. 2 StPO: Beweiserhebung; Delegation an die Polizei; Rückweisung der Anklage.
Die Bestimmung gemäss Art. 311 Abs. 1 StPO, dass Staatsanwälte die Beweiserhebungen selber durchführen, ist nicht Gültigkeits-, sondern Ordnungsvorschrift. Von der Staatsanwaltschaft an die Polizei formell korrekt delegierte Beweiserhebungen, insbesondere Einvernahmen, sind ausnahmsweise zulässig. Wann ein Ausnahmefall vorliegt, ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Bejahung der Ausnahme in einem Fall mit Geständnis des Beschuldigten und leicht erfassbarem, klarem und unkompliziertem Sachverhalt. (Regeste forumpoenale)
Dem Entscheid des Obergerichts ist zuzustimmen. Insbesondere kam eine Rückweisung gestützt auf Art. 329 StPO m.E. nicht in Frage. Problematisch ist allerdings, dass sich mancherorts bereits abzeichnet, dass die Ausnahme zur Regel wird und die Verfahrensleitung nur noch dann “führt”, wenn die Polizei Zwangsmassnahmebefehle braucht, die sie selbst nicht ausstellen kann.
Interessant auch die Bemerkungen von Spühler zu diesem Entscheid in CAN 2012 Heft 2, S. 118 (kann man online abrufen: http://www.can-online.ch, Archiv)
Danke für den Hinweis. Es handelt sich um Anmerkungen von Oberrichter Six, die hier nachzulesen sind.
Interessanter Entscheid. Aber der Kommentar dazu dass “Erfahrene Kriminalpolizisten verständlicherweise Mühe haben, wenn ihnen von einem jungen Staatsanwalt ohne jede Praxiserfahrung ” was erklärt wird ist zu wenig weitsichtig! Man könnte gemäss dieser Aussage meinen Staatsanwalt werde man direkt vom Kindergarten aus. Junge, gut ausgebildete (und vor allem mit aktuellem Wissen ausgebildete) und sehr engagierte Staatsanwälte haben vielerorts gezeigt, dass sie fähig sind, ein komplexes Verfahren zu leiten und zu führen. Nicht alles was man x Jahren einfach so gemacht hat und dadurch erfahrerer Kriminalpolizist wurde, ist immer noch das Beste. Beispielsweise haben vielerorts frisch ausgebildete junge Staatsanwälte neuere Erkenntnisse über Einvernahmetechniken und Einvernahmepsychologie als alteingessessene Polizisten. Ein junger Staatsanwalt der die Zügel in der Hand hält, die Untersuchung führt, sich ständig im Know-how weiterentwickelt, Biss hat, und den Fall vom Tatort aktiv bis zum Plädoyer vor Gericht führt weiss was er tut und da muss es halt ein alteingesessener Kriminalpolizist trotz grossem Altersunterschied über sich ergehen lassen, sich etwas erklären zu lassen. Oder wenigstens die Bereitschaft zeigen, ein Team zu bilden (leider oft auch nicht der Fall). Wer sich dem verschliesst und glaubt jung=unerfahren und keine jahrelange Praxis=schlecht, sieht zu wenig weit und hat definitiv ein Machtproblem.
Vielleicht habe ich ein Machtproblem (mit der Macht der Staatsanwaltschaft habe ich definitiv ein Problem) und sicher fehlt mir die Weitsicht, aber ich sehe aus der Nähe etliche Staatsanwälte, die schlicht zu schwach sind, ein Verfahren zu leiten.
ohh, cool, wenn ich die Anmerkungen so durchlese, dann hat die Staatsanwaltschaft in meinen Fällen eindeutig dagegen verstossen. Alles lief über Polizei, es hiess zwar Staatsanwaltschaft meldet sich, ist aber nicht passiert. Auch beim dritten mal, wo ich mich sogar noch beschwerte, dass man mir schon mal gesagt habe die Staatanwaltschaft werde sich melden dann aber nichts kam, hiess es wieder die melden sich dann, nix passiert bis heute. Das ganze geht schon fünf Jahre und ich habe bisher noch nie mit denen geredet also wurde wohl alles der Polizei delegiert und alles andere waren reine Alibibehauptungen von denen. Andererseits habe ich in der Zeit noch nicht mal ein Gerichtsgebäude von innen gesehen, lief alles irgendwie ohne mich, obwohl es mittlerweile dutzende Urteile gibt. Ich fühle mich daher auch nicht wirklich wahrgenommen, die haben mich ja weder gehört noch gesehen und ich auch nicht, frage mich manchmal ob die Urteile überhaupt meine Fälle betreffen. Zudem wenn es um Ermittlungen geht, da habe ich ehrlich gesagt das meiste selber gemacht oder viel mehr machen müssen, wurde quasi an mich delegiert. Deshalb kam mir zwischen durch auch schon mal der Gedanke ob ich den Rest auch gleich selber erledigen soll, ich meine wenn ich schon selber ermitteln muss, warum nicht auch gleich noch die Beweisführung, die Verurteilung und anschliessend die Vollstreckung der Verurteilung? Wenigstens würde dann mal endlich was laufen…
Naja, wenn auch der Begriff, wie auch der Glaube an eine sog. materielle Wahrheit etwas ist, was nahezu unerreichbar und eigentlich nur in der Theorie besteht – (und somit denn auch vorsichtig zu handhaben und allenfalls auch kritisch zu überdenken ist – da oftmals bereits durch eine menschlich vorprogrammierte, selektive Wahrnehmung von Geschehnissen eine unterschiedliche Wahrheitsfeststellung gebildet werden könnte) – so ist es doch auch gar nicht schlecht, wenn sich auch jeweils mehrere ermittelnde oder untersuchende Personen mit einem Fall befassen (also sowohl Polizei wie auch Staatsanwaltschaft schliesslich mit einem Fall befasst sind): Sonst wären wir dann von einem Strafsystem mit einer allfälligen einseitigen Faktenbasis oder Verfahrenssteuerung, das weitergehend schliesslich sogar noch Züge eines Talionsprinzips aufweisen könnte – sowie von allfälligen selbstjustizähnlichen oder inquisitorischen Machenschaften, bei der dann tatsächlich beinahe in einem Alleingang sowohl der Sachverhalt zu ermitteln und darauf gestützt dann eine Strafe “vorzuprogrammieren” wäre – oder sogar (mit einem Strafbefehl) gleich selbst ausgesprochen und festgesetzt werden könnte – auch wirklich gar nicht mehr so weit entfernt: Dies sollte ja durch die Modernisierung und die Gedanken des staatlichen Strafmonopols gerade verhindert werden.
Zur materiellen Wahrheit zitiere ich immer wieder gern Ingo Müller, Der Wert der “materiellen Wahrheit”, Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1977, 522. Die seit der Aufklärung erfolgte Modernisierung des Strafprozessrechts hat ihren Höhepunkt wahrscheinlich bereits überschritten. Die aktuellen Entwicklungen sind derart von Effizienz und fiskalischen Überlegungen geprägt, dass inquisitorische Prinzipien wieder die Regel sind. Polizei und Staatsanwaltschaft untersuchen und entscheiden in über 95% der Fälle selbst. Die unabhängigen Strafrichter werden Randfiguren und scheinen es gar nicht zu merken. Vielleicht ist es ihnen auch ganz recht so.