Polizeigewalt in St. Gallen
Das Bundesgericht weist die Strafbehörden des Kantons St. Gallen an, einen Polizeieinsatz zu untersuchen (BGer 1C_97/2015 vom 01.09.2015; Art. 3 EMRK).
Dem polizeilichen Greiftrupp wurde wohl zum Verhängnis, dass sein oberflächlicher Bericht beschönigenden Inhalts war …
Dass während des Polizeieinsatzes “mehr” vorgefallen sein könnte als im Polizeibericht festgehalten, wird im Rahmen der Vernehmlassung seitens der Beschwerdegegner auch nicht mehr in Frage gestellt (…). Danach sei es “zutreffend”, dass die Beschwerdeführerin an gewissen Handlungen “aktiv gehindert” werden musste. Auch habe man sie “schieben” müssen, um sie ins Polizeifahrzeug zu bringen. Die festgestellten Hämatome könnten damit erklärt werden, dass angemessene Gewalt angewendet werden musste, um die Beschwerdeführerin zunächst bis zum Eintreffen des Arztes “ruhig zu stellen” und sie danach gegen ihren Willen in die Klinik zu bringen. Davon ist jedoch im Polizeibericht, wie dargelegt, keine Rede. Bei dieser Ausgangslage konnte es die Vorinstanz deshalb nicht dabei belassen, die Sachverhaltsdarstellung der Polizei “insgesamt als stimmig und insbesondere als glaubhaft” zu bezeichnen und den Ausführungen der Beschwerdeführerin lediglich eine reduzierte Glaubwürdigkeit zu attestieren (E. 4.3.3.).
… und dass es wohl keinen sachlichen Grund mehr gab, die bereits schlafende Störerin abzuführen:
Es kann jedoch als unbestritten gelten, dass die alkoholisierte Beschwerdeführerin beim Eintreffen der Polizeibeamten in ihrem Bett lag (und sich nach Angaben der Beschwerdeführerin bereits im Tiefschlaf befand) und mithin keine Situation der Selbst- oder Fremdgefährdung vorlag. Weshalb die Beamten es dennoch für notwendig und dringlich erachteten, die Beschwerdeführerin sofort anzugehen, statt am nächsten Tag erneut bei ihr vorstellig zu werden, um sie in ausgenüchtertem Zustand zum Vorwurf der Sachbeschädigung des nachbarlichen Mobiliars und zu den Aussagen ihres Ehegatten zu befragen, kann dem Bericht nicht entnommen werden (E. 4.3.1).
Aber auch das Bundesgericht will nicht den Eindruck erwecken, den Beamten zu misstrauen und schiebt folgende, etwas peinlich anmutende Erklärung nach:
Zu betonen ist Folgendes: Die Ermächtigung zur Eröffnung einer Untersuchung kommt keiner Vorverurteilung der betroffenen Polizeibeamten gleich (Art. 6 Ziff. 2 EMRK und Art. 32 Abs. 1 BV). Es geht einzig darum, dass die von der Beschwerdeführerin erhobenen Vorwürfe gründlich und sorgfältig abgeklärt werden (E. 4.5).
Das heisst übersetzt: Vor der Einstellung wenigstens mal untersuchen. Immerhin stellt das Bundesgericht auch fest, dass auch eine Strafanzeigerin Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat. Das Bundesgericht erinnert an einen (oft vergessenen) Grunsatz:
Ein verfassungsmässiger Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege besteht für jedes staatliche Verfahren, in welches der Gesuchsteller einbezogen wird oder welches zur Wahrung seiner Rechte notwendig ist (E. 5.2).
Der Beschwerdeführerin, einer fünfundsechzigjährigen Alkoholikerin, attestiert das Gericht unter anderem folgende ärztlich belegte Verletzungen:
“Dem (aus unbekannten Gründen undatierten und nicht unterschriebenen) Arztbericht von Frau Dr. med. F.________ kann entnommen werden, dass die Beschwerdeführerin beispielsweise zwei 5,5 x 4 cm bzw. 4 x 4 cm grosse Blutergüsse am linken bzw. rechten lateralen Oberarm im mittleren Drittel aufweist. Weitere Blutergüsse befinden sich unter anderem auch über dem linken Schulterdach (ca. 5,5 cm), am rechten unteren Augenlid (ca. 4 x 1-2 cm), am dorsalen rechten Oberarm und am Schulterblatt sowie am linken bzw. rechten dorsalen Unterschenkel direkt cranial des oberen Sprunggelenks (5 x 7 cm).” (E4.3.2)
Dass humananatomische Begrifflichkeiten bisweilen etwas Glücksache sein können, erfrischt die Argumentation eher noch.
“Der Polizeirapport lässt … nicht darauf schliessen, dass die Beschwerdeführerin von den Polizeibeamten jemals gehalten, getreten, gestossen oder auf ihr Bett zurückgeworfen wurde. Vielmehr scheint es, dass sich der einzige Körperkontakt darauf beschränkte, der Beschwerdeführerin beim Anziehen der Kleider zu helfen. (E4.3.1)”
Der letzte Satz der Richter über den von der einstellenden Staatsanwaltschaft als insgesamt stimmig und glaubhaft bezeichneten Polizeirapport (ihre Worte) geht in die Geschichte ein.
“Die Ermächtigung zur Eröffnung einer Untersuchung kommt keiner Vorverurteilung der betroffenen Polizeibeamten gleich.”
Es gibt sie also noch die Unschuldsvermutung – zumindest für Polizistinnen und Polizisten.