“Post-it”-Zettel als Befangenheitsgrund?
Wenn der Referent die Akten aufbereitet, indem er seine Richterkollegen und die Gutachter mit kommentierten “Post-it”-Zetteln auf gewisse Aktenstellen aufmerksam macht, begründet er damit keine Befangenheit (BGer 1B_151/2017 vom 14.06.2017).
Dass die Rügen des Beschwerdeführers wohl nicht ganz aus der Luft gegriffen schienen, erkennt man daran, dass ihm die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt wurde.
Hier die entscheidende Erwägung des Bundesgerichts zu den Richter und der Gerichtsschreiberin:
Die Befürchtung, dass sich die Richter und die Gerichtsschreiberin bei der Beweiswürdigung von den “Post-it”-Zetteln des Referenten beeinflussen liessen, erscheint daher jedenfalls dann unbegründet, solange keine Anzeichen dafür bestehen, dass sie sich effektiv davon leiten liessen. Solche Anzeichen sind nicht ersichtlich. Der Umstand, dass sie die Akten mit den “Post-it”-Zetteln des Referenten erhielten, ist daher nicht geeignet, die Mitrichter und die Gerichtsschreiberin als befangen erscheinen zu lassen (E. 4.1).
Kann sich jemand vorstellen, wie sich solche Anzeichen manifestieren könnten? Ich nicht.
Der Kampf des Verteidigers ist verständlich. Man hat vor Erstinstanz einen Freispruch erreicht. Die Argumente scheinen dann aber vor Obergericht wie vom Winde verweht. Man entdeckt Notizen des Referenten in den Akten, die offenbar ausschliesslich gegen den Mandanten gerichtet sind (oder doch nur in ihrer überwiegenden Mehrheit?), was gemäss Bundesgericht “unglücklich” ist, aber zum Glück nur theoretisch. Denn die anderen Richter lassen sich praktisch nicht von den Vormeinungen des Referenten beeinflussen. – Stimmt das wirklich? Könnte es nicht viel mehr so sein, dass der Co-Referent und der Vorsitzende Hemmungen haben, einen i.d.R. wie ein Urteil verfassten Urteilsantrag gegen ihren Kollegen zu kippen und damit nicht nur dessen umfangreiche Arbeit mit einem Schlag zunichte zu machen, sondern auch seine Fachkompetenz infrage zu stellen und ihm dabei noch die doppelt schwierige Aufgabe zuzuteilen, gegen seine Überzeugung mit vielleicht noch mehr Arbeit als zuvor ein ganz anderes Urteil abzufassen? Vorurteile verschliessen die Ohren, stehen sie nun auf Post-it-Zetteln oder im Urteilsantrag oder werden sie mündlich kolpoertiert. Das Referentensystem mag ok sein, der ausformulierte Urteilsantrag und andere Beeinflussungen der übrigen Richter, die deren Unbefangenheit nicht nur unglücklich theoretisch infrage stellen, sind es nicht.
Es ist nicht ersichtlich, inwiefern Post-Its die Richter stärker beeinflussen sollen als der Urteilsentwurf… Und genau wie zu anderen in der Urteilsberatung vorgebrachten Argumenten kann man auch zu Kommentaren auf Post-Its ohne Weiteres eine abweichende Meinung haben.
So wie ich den Entscheid lese, geht es um den Zeitpunkt. “Dabei bereiten sich alle beteiligten Richter und die Gerichtsschreiberin aufgrund der Akten auf die Berufungsverhandlung vor und bilden sich eine vorläufige Meinung. Einer der Richter erstellt als Referent vor der Verhandlung schriftlich einen vorläufigen Urteilsantrag, *überarbeitet ihn anhand der an der Berufungsverhandlung gewonnenen Erkenntnisse und lässt ihn *anschliessend** als Ausdruck seiner aufgrund der Akten und der Verhandlung abschliessend gewonnenen richterlichen Überzeugung in die Urteilsfindung der Kammer einfliessen.”
Inwieweit diese Vorstellung des Bundesgerichts der Wirklichkeit entspricht, kann sich jeder selbst denken.
Post-it werden überschätzt. Es lesen sowieso nie alle RichterInnen die Akten.