Praxisänderung beim Eventualvorsatz?
In einem viel beachteten und zu Unrecht kritisierten Entscheid hat das Bundesgericht (bzw. der Kassationshof, den es seit 1.1.2007 gar nicht mehr gibt) eine Beschwerde des “Rasers von Muri” gutgeheissen (6S.280/2006 vom 21.01.2007). Anders als die Vorinstanz hat das Bundesgericht auch hier (vgl. meinen früheren Beitrag) den Eventualvorsatz verneint. Es ging um folgenden Sachverhalt:
Die Vorinstanz wirft [..] dem Beschwerdeführer vor, dass er beschleunigte, als F. ihn zu überholen begann, und dass er trotz des herannahenden Gegenverkehrs nicht abbremste, um F. den Abschluss des Überholmanövers durch Einschwenken nach rechts vor seinem Fahrzeug zu ermöglichen. Durch sein Verhalten habe er das Risiko einer Frontalkollision zwischen F. und dem entgegenkommenden Fahrzeug geschaffen. Dieses Risiko sei ihm bewusst gewesen (E. 3.1).
Das Bundesgericht hat den Eventualvorsatz wahrscheinlich hauptsächlich deshalb verneint, weil der überholende Verkehrsteilnehmer jederzeit die Herrschaft über das Geschehen hatte:
Im Gegenteil sprechen einige Umstände dafür, dass der Beschwerdeführer – allenfalls pflichtwidrig unvorsichtig – davon ausging und darauf vertraute, dass F. das Überholmanöver schon noch rechtzeitig abbrechen und dadurch die drohende Frontalkollision vermeiden werde. Der Beschwerdeführer gefährdete durch das inkriminierte Verhalten auch sich selbst. Eventualvorsatz ist daher nicht leichthin anzunehmen (siehe BGE 130 IV 58 E. 9.1.1 S. 63/64 mit Hinweisen). F. konnte auf dem übersichtlichen Streckenabschnitt den nahenden Gegenverkehr ebenso gut erkennen wie der Beschwerdeführer. F. konnte grundsätzlich selber am besten abschätzen, wann der Moment gekommen sei, an dem er spätestens durch Abbremsen das Überholmanöver abbrechen musste, um eine Kollision mit dem entgegenkommenden Fahrzeug zu verhindern. Ein solcher Abbruch des Überholmanövers war jederzeit möglich, da keine Fahrzeuge folgten. F. hatte insoweit die Herrschaft über das Geschehen. Der Abbruch des Überholmanövers erscheint als die natürliche Reaktion des Überholenden, wenn bei nahendem Gegenverkehr aus irgendwelchen Gründen eine Frontalkollision droht, zumal von einem solchen Zusammenstoss neben den Insassen des entgegenkommenden Fahrzeugs in erster Linie die Insassen des überholenden und nicht diejenigen des überholten Fahrzeugs betroffen sind (E. 4.2.5).
Dem wäre eigentlich nichts hinzuzufügen. Das Bundesgericht hat dann aber dennoch bemerkenswerte Überlegungen speziell zum Eventualvorsatz im Bereich des Strassenverkehrsrechts nachgeschoben:
Im Übrigen kann bei Unfällen im Strassenverkehr nicht ohne weiteres aus der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tatbestandsmässigen Erfolgs auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden. Erfahrungsgemäss neigen Fahrzeuglenker dazu, einerseits die Gefahren zu unterschätzen und andererseits ihre Fähigkeiten zu überschätzen, weshalb ihnen unter Umständen das Ausmass des Risikos der Tatbestandsverwirklichung nicht bewusst ist. Einen unbewussten Eventualdolus aber gibt es nicht (E. 4.4).
Der Entscheid ist zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen.