Praxisänderung – Grundsatz der Tatidentität aufgegeben

In einem offenbar nicht zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid ändert das Bundesgericht seine Rechtsprechung zu Art. 69 StGB (Anrechnung der Untersuchungshaft; BGE 6S.421/2005 vom 23.03.2006).

Dem neuen Entscheid des Bundesgerichts lag eine wegen Verdachts versuchter Tötung angeordnete Untersuchungshaft zu Grunde. Von diesem Verdacht wurde der Beschwerdeführer freigesprochen. Dass er trotzdem zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von total 407 Tagen verurteilt wurde, ist auf die Verurteilung in anderen Anklagepunkten sowie auf einen Widerruf zurückzuführen. Die gesamthaft ausgefällte Strafe von 407 Tagen wurde mit den bereits erstandenen 925 Tagen Freiheitsentzug verrechnet. Für die 518 Tage Überhaft erhielt der Beschwerdeführer CHF 6,500.00 Schadenersatz und CHF 30,000.00 Genugtuung. Als Folge der teilweisen Verurteilung wurde ihm ein Viertel derVerfahrenskosten im Umfang von rund CHF 32,000.00 auferlegt und mit seiner Entschädigung verrechnet.

Die Rügen vor Bundesgericht blieben erfolglos. Zunächst machte der Beschwerdeführer geltend, die Überhaft sei in Verletzung von Bundesrecht nicht strafmindernd berücksichtigt worden. Dazu das Bundesgericht: Der im Zusammenhang mit ungerechtfertigter Haft erlittene Vermögensschaden und die immaterielle Unbill werden nach kantonalem Prozessrecht finanziell entschädigt (…). Eine darüber hinausgehende, generelle Strafminderungspflicht für die als Folge des teilweisen Freispruchs erstandene Überhaft besteht nicht. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers gelten die in der Haft ausgestandenen Beeinträchtigungen durch die Entschädigung und Genugtuung als abgegolten (E. 1.3).

Bei der Anrechnung nach Art. 69 StGB ersetzt das Bundesgericht den Grundsatz der Tatidentität durch den Grundsatz der umfassenden Anrechnungsregel:

Interpretiert man Art. 69 StGB in diesem Sinne als umfassende Anrechnungsregel, so kommt es auch nicht darauf an, ob die Untersuchungshaft auf neu auszufällende oder früher verhängte Freiheitsstrafen angerechnet wird. Im Vordergrund steht der Gedanke, zu entziehende wenn immer möglich mit bereits entzogener Freiheit zu kompensieren. Deshalb kann die Untersuchungshaft auch an die in einem früheren Urteil bedingt ausgefällte und nunmehr zu widerrufende Freiheitsstrafe angerechnet werden (E. 3.2.4).

Das Nachsehen hat der Beschwerdeführer, der für die abgesessenen 925 Tage praktisch leer ausgeht.