Protokolle
Eines der peinlichsten Kapitel im schweizerischen Strafprozessrecht sind die Einvernahmeprotokolle im Vorverfahren. Sie sind oft Ausdruck eines Verhandlungsergebnisses zwischen Polizei und Anwalt. Es kommt aber auch vor, dass nur das Wichtigste festgehalten wird, und das nicht einmal präzis. Bei der Frage der Wichtigkeit entscheidet in der Regel nicht die Verteidigungsperspektive, um es einmal vorsichtig auszudrücken.
In einem Streit um ein polizeiliches Einvernahmeprotokoll musste sich das Bundesgericht äussern (BGer 6B_893/2015 vom 14.06.2016, Fünferbesetzung). Es stellt zunächst fest, dass die Vorinstanz “zutreffend” feststellt, dass von den Äusserungen des Beschwerdeführers die wesentlichen protokolliert hat, zumal die Beamten dazu ja verpflichtet sind:
Das fragliche Protokoll ist äusserst rudimentär. Daraus ergibt sich weder, dass dem Beschwerdeführer die vorläufigen Ergebnisse der Durchsuchung seiner Speichermedien vorgehalten wurden, noch, dass er über die möglichen Folgen seines Verhaltens informiert wurde. Ebenso wenig geht aus dem Protokoll hervor, auf welche Frage der Beschwerdeführer antwortete, als er eingestand, kinderpornografische Erzeugnisse heruntergeladen zu haben. Jedoch lässt die Strafprozessordnung zu, dass Fragen und Antworten grundsätzlich nicht wörtlich, sondern unter Weglassung der Frage nur die Antwort oder zusammenfassend mehrere Antworten protokolliert werden. Demgegenüber sind die Strafbehörden verpflichtet, bei entscheidenden Punkten Fragen und Antworten wörtlich zu protokollieren (vgl. Art. 78 Abs. 3 StPO; BBl 2006 1156 Ziff. 2.2.8.4). Wie die Vorinstanz zutreffend festhält, sind die wesentlichen Aussagen des Beschwerdeführers im Protokoll enthalten. Zudem scheint das Geständnis des Beschwerdeführers wörtlich protokolliert worden zu sein. Folglich genügt das Protokoll den Anforderungen von Art. 77 lit. e und Art. 78 StPO (E. 1.4.2).
Im vorliegenden Fall hatte ein im Protokoll nicht erwähntes Behördenmitglied an der Befragung teilgenommen und hat dabei selbst auch Fragen gestellt. Das verletzt nun offensichtlich Art. 77 lit. c StPO. Da nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts die Bestimmungen zur Protokollierung zwingender Natur sind (gibt es in der StPO dispositives Recht?), könnte man zum Schluss gelangen, das Protokoll sei nicht verwertbar. Das Bundesgericht umgeht diese Folge, indem es feststellt, die zitierte Bestimmung sei bloss Ordnungsvorschrift:
Die Verletzung von Art. 78 Abs. 5 StPO führt nach dem Gesagten dazu, dass die inhaltliche Richtigkeit der protokollierten Einvernahme nicht mehr gewährleistet ist, womit die geschützten Interessen der betroffenen Person erheblich beeinträchtigt werden können. Während Art. 78 Abs. 5 StPO den Inhalt des Einvernahmeprotokolls beschlägt und die korrekte Niederschrift unter anderem der getätigten Aussagen sicherstellt, betrifft Art. 77 lit. b StPO nicht den Inhalt des Protokolls an sich, sondern dient der Erfassung der prozessualen Rahmenumstände der Einvernahme (ähnlich PITTELOUD, a.a.O., N. 163 zu Art. 76 ff. StPO). Damit schützt Art. 77 lit. b StPO gegenüber Art. 78 Abs. 5 StPO eher untergeordnete Interessen der Verfahrensbeteiligten. Hierfür spricht insbesondere, dass gemäss Art. 77 lit. b StPO auch die weiteren anwesenden Personen namentlich aufzuführen sind. Es ist nicht ersichtlich, dass grundlegende Verfahrensrechte verletzt werden könnten, indem eine einer Verfahrenshandlung beiwohnende Person im Protokoll nicht erwähnt wird. Da Art. 77 lit. b StPO für die Wahrung der geschützten Interessen der betroffenen Person keine derart erhebliche Bedeutung hat, dass die Bestimmung ihr Ziel nur erreichen kann, wenn bei ihrer Nichtbeachtung das Protokoll unverwertbar ist, stellt die Norm eine Ordnungsvorschrift dar (a.M.: BOMIO, a.a.O., N. 3 zu Art. 77 StPO; wohl auch NÄPFLI, a.a.O., N. 12 zu Art. 76 StPO). Das zweite Einvernahmeprotokoll vom 3. Juli 2012 ist trotz Verletzung von Art. 77 lit. b StPO verwertbar (vgl. Art. 141 Abs. 3 StPO) [E. 1.4.3].
Solche wenig überzeugende Urteile könnten vermieden werden, wenn endlich audiovisuell aufgezeichnet würde.
Gibt es in der StPO dispositives Recht?
Das gibt es tatsächlich: jede Norm, die von der Praxis als Ordnungsvorschrift taxiert wird.
Und wenn man einige Polizisten fragt, ist ohnehin so einiges dispositiver Natur.
Im Kanton, in welchem ich praktiziere, hat sich mittlerweile eingebürgert, dass Beschuldigte, bei denen von Anfang an ein erheblicher Tatverdacht vorliegt und auch von Anfang an klar ist, dass ein Fall von notwendiger Verteidigung vorliegt, zuerst einmal als Auskunftsperson einvernommen werden. Das hat den Vorteil, dass regelmässig bei der ersten Einvernahme der beschuldigten Person kein Anwalt hinzugezogen werden muss… Dies zuweilen sogar dann, wenn im Verlauf dieser Einvernahme ein Geständis abgelegt wird. Dann wird der vermeintlichen Auskunftsperson zwar gesagt, sie sei jetzt beschuldigt. Aber ein Pikettanwalt wird noch immer nicht hinzugezogen, wenngleich ein Fall von notwendiger Verteidigung vorliegt.
Im Nachbarkanton ist es etwas perfider: Man ruft zwar den Pikettanwalt, beginnt dann aber trotzdem mit der Einvernahme, bevor dieser eintrifft.
Die Strafbehörden gehen den Weg des geringsten Widerstands. Sie halten sich nicht ans Gesetz und müssen das auch nicht, weil es kaum je Konsequenzen hat.
Ich bin kein Strafrechtler, doch habe ich die Vermutung das bei soviel “Ordnungsvorschrifterei” in den vielen Urteilen die ich hier gelesen habe für mich überhaupt nicht klar wird was keine Ordnungsvorschrift ist. “Deren Nichtbeachtung, also die unvollständige oder gar völlig fehlende Angabe führt zur formellen Rechtswidrigkeit des Bescheids/Verfügung/Protokolls etc ??.”
So hat das Bundesgericht einen fehlenden Durchsuchungsbefehl als “blosse” Ordnungsvorschrift und das Berner Obergericht in einem leicht ähnlichen Fall als Geltungsvorschrift bezeichnet. Was ist nun nicht eine Ordnungsvorschrift ??? Im Kanton wo ich lebe sagt man in der Polizeiausbildung zbs. das Alles “blosse” Ordnungsvorschrift sei solange das Gesetz es nicht ausdrücklich benennt. Das Risiko doch eine Geltungsvorschrift zu missachten ist sehr minimal. Wenn man das schon in der Polizeiausbildung eingeimpft bekommt muss man sich nicht wundern wieso Polizisten so vorgehen
Aber, aber Leute
Geschätzte kritische Kolleginnen und Kollegen
Ihr mögt ja teilweise Recht haben mit eurer Kritik, aber gibt es bei den Staatsanwaltschaften und den Gerichten wirklich nur schlechte, megalomane Staatsanwälte und Richter? Ich denke wohl nicht, also verzichtet doch auf die allgemeine Beschuldigung “in dubio pro toto”.
Mit freundlichen kollegialen Grüssen
Friedrich Müller, Staatsanwalt
@Friedrich: Hast Du Dich schon mal gefragt, warum es eigentlich die Beschuldigten und die Verteidiger sind, die für genauere Protokollierung eintreten und Videoaufzeichnungen fordern?
@ alle
Ich bin ebenfalls Staatsanwalt. Die Videoaufzeichnung von Einvernahmen würde ich begrüssen.
Dann könnten nämlich die Verteidiger im Nachhinein nicht immer behauptet, der Beschuldigte habe etwas so nicht gemeint bzw. etwas sei nicht exakt so gesagt worden. Zudem könnten Verteidiger, die – aus welchen Gründen auch immer – dem Beschuldigten regelmässig die “rechtskonforme” Antwort einflüstern, gestoppt werden.
Mein Vorschlag: Einvernahmen werden – wie bisher – ordentlich protokolliert. Zudem werden die Einvernahmen aufgezeichnet. Sollten Unklarheiten bzw. Streitigkeiten auftauchen, kann die Videoaufnahme konsultiert werden.
Deal?
Das freut mich sehr!
Für die Polizeiarbeit würde das auch eine Erleichterung ergeben.
Dass eine wichtige Protokollvorschrift neuerdings und entgegen der Lehre als blosse Ordnungsvorschrift bewertet wird, ist sehr fragwürdig. Dieser Entscheid muss in den juristischen Fachzeitschriften kritisch kommentiert werden.
Wie wäre es mit einem Beitrag im forumpoenale? Prof. Ackermann würde sich bestimmt freuen.
Wie würdest Du hier die Abgrenzung zwischen Gültigkeits- und Ordnungsvorschriften machen ? Mir wird das nicht klar.