Protokollierungsvorschriften und Anklageprinzip missachtet
Ein den Protokolloerungsvorschriften widersprechendes Einvernahmeprotokoll ist gemäss einem neuen Urteil der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts nicht verwertbar (BGer 6B_492/2012 vom 23.02.2013, Fünferbesetzung):
Der Beschwerdeführer wurde in der erstinstanzlichen Verhandlung von der Vorsitzenden und ergänzend von einem Gerichtsmitglied, dem Vertreter der Privatklägerschaft sowie von seinem Verteidiger befragt. Über diese Befragung wurde ein Gerichtsprotokoll erstellt (vgl. Bezirksgericht Kreuzlingen, Protokollauszug, Akten des Obergerichts, S. 11 ff.). Das Protokoll wurde unbestrittenermassen dem Beschwerdeführer weder vorgelesen noch ihm zur Durchsicht vorgelegt und von diesem dementsprechend auch nicht unterzeichnet. Damit sind die Gültigkeitserfordernisse des Protokolls nicht erfüllt und sind die in der erstinstanzlichen Verhandlung gemachten Aussagen des Beschwerdeführers gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO nicht verwertbar (SABINE GLESS, in: Basler Kommentar, Strafprozessordnung, 2011, Art. 141 StPO N 67/79) [E. 1.5].
Das ist an sich ja noch nicht überraschend. Erfreulicherweise stellt das Bundesgericht aber auch fest, dass es nicht am Beschuldigten ist, um Vorlegung des Protokolls nachzusuchen und den Fehler zu beanstanden. Das kann er auch noch in der Berufungsbegründung:
Was die Vorinstanz in diesem Zusammenhang erwägt, dringt nicht durch. Weil auf die Vorlegung und Unterzeichnung des Protokolls nicht verzichtet werden kann, hat das Gericht von Amtes wegen dafür besorgt zu sein, dass die Protokollierungsvorschriften eingehalten werden. Es ist nicht am Beschuldigten, in der Verhandlung nach Abschluss der Einvernahme um Vorlegung des Protokolls nachzusuchen. Daher schadet es nicht, dass er das Vorgehen in der erstinstanzlichen Verhandlung nicht beanstandet hat. Die Rüge ist auch nicht verspätet, zumal sie der Beschwerdeführer bereits in der Berufungsbegründung vorgetragen hat (…). Ein treuwidriges Verhalten seitens des Beschwerdeführers ist nicht erkennbar (E. 1.5).
M.E. müsste er es auch noch im Plädoyer des Berufungsverfahrens rügen können, da das Gesetz ja doch von Amts wegen einzuhalten ist. Ich habe nie begriffen, wie man einer Partei treuwidriges Verhalten vorwerfen kann, wenn sie die Verletzung einer von Amts wegen zu beachtenden Vorschrift erst dann rügt, wenn sie nicht mehr korrigiert werden kann. So wird die Verantwortung für das justizförmige Verfahren den Parteien übertragen, was m.E. unhaltbar ist.
Interessant ist auch eine Gehörsrüge, die im selben Urteil wohl nur aus formellen Gründen nicht geschützt wurde:
[Der Verteidiger] wurde in der Folge von der Vorsitzenden des Bezirksgerichts unterbrochen und darauf hingewiesen, dass der Beschuldigte nur ergänzend zur präsidialen Einvernahme zu seiner gegenwärtigen persönlichen Situation zu befragen sei. Der Verteidiger des Beschwerdeführers protestierte gegen dieses Vorgehen und warf der Vorsitzenden vor, sie schneide ihm das Wort ab. Diese entgegnete, sie habe ihm nicht das Wort abgeschnitten, sondern ihn lediglich auf die Verfahrensvorschriften hingewiesen. Im Anschluss daran gab der Verteidiger des Beschwerdeführers zu Protokoll, er habe keine weiteren Fragen an den Beschwerdeführer (…) [E.2.3].
Abgewiesen wurde die Rüge, weil der Verteidiger sich darauf beschränkte, in seiner Berufungsbegründung und seinem Plädoyer (…), sämtliche Argumente vorzutragen, ohne selbst Fragen mehr zur Sache stellen zu lassen. Erfolg hatte der Beschwerdeführer dafür mit der geltend gemachten Verletzung des Anklageprinzips:
Aus der Anklageschrift ist nicht ersichtlich, durch welche der in Art. 165 Ziff. 1 StGB genannten Bankrotthandlungen der Beschwerdeführer die Überschuldung der B.________ AG herbeigeführt oder verschlimmert oder deren Zahlungsunfähigkeit herbeiführt haben soll. Insbesondere umschreibt die Anklageschrift die Stellung des Beschwerdeführers als Organ im Sinne von Art. 29 lit. a und d StGB nicht hinreichend. Sie beschränkt sich auf den blossen Hinweis, der Beschwerdeführer habe sich seit 1997 als stiller Teilhaber mit 50 % beteiligt. Dass er Entscheide, die Organen vorbehalten waren, getroffen oder die eigentliche Geschäftsführung in organtypischer Weise massgebend mitbestimmt hätte (vgl. BGE 128 III 29 E. 3a; 107 IV 175 E. 1a), ergibt sich aus der Umschreibung der stillen Teilhaberschaft nicht. Damit erschöpft sich der in der Anklageschrift umschriebene Tatbeitrag des Beschwerdeführers im Vorwurf der Falschbeurkundung. Daraus lässt sich zur Beteiligung an der Misswirtschaft nichts ableiten. Die Anklageschrift genügt hier den Anforderungen gemäss Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO nicht [E. 3.5].
Die Strafrechtliche Abteilung zitiert übrigens alle Autoren in Kapitälchen (s. meinen letzten Beitrag, am Ende).