Psychische Belastung als Grund für eine amtliche Verteidigung

In den Kantonen wird oft nur anhand der zu erwartenden Strafe entschieden, ob Anspruch auf amtliche Verteidigung besteht. Die rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten, die eine amtliche Verteidigung begründen können, werden oft ausgeblendet oder schlicht übersehen. Das Bundesgericht hat in diesem Bereich deutlich mehr Sinn für solche Kriterien, so auch in BGer 1B_170/2013 vom 30.05.2013, wo die Beziehungen zwischen den Beteiligten zu besonders heiklen Situationen führen müssen:

Die Staatsanwaltschaft untersucht neben mehrfachen sexuellen Handlungen zum Nachteil eines Kindes, inwiefern das Verhalten von drei Erziehungsberechtigten und Betreuungspersonen, darunter die Beschwerdeführerin, den Tatbestand von Art. 219 StGB erfüllt. Mutmassliches Opfer ist das eigene (heute sechsjährige) Kind der Beschwerdeführerin. Beim Hauptbeschuldigten (betreffend Sexualdelikte) handelt es sich um ihren Stief-Grossvater. Ausserdem sind neben der Beschwerdeführerin auch noch ihr Ehemann (Vater des Kindes) und ihre Mutter (Grossmutter des Kindes und Stieftochter des Hauptbeschuldigten) wegen Vernachlässigung ihrer Fürsorge- oder Erziehungspflichten mitbeschuldigt. Nach Darlegung der kantonalen Instanzen werden die betroffenen Familienmitglieder zu ihren jeweiligen Verantwortlichkeiten und Tatbeiträgen zu befragen sein.

In dieser Konstellation liegt die Gefahr von (mehrfachen) Interessenkollisionen bzw. familiären Loyalitätskonflikten auf der Hand. Dies umso mehr, als zwei der Beschuldigten (nämlich die Mutter der Beschwerdeführerin sowie der Hauptbeschuldigte) auch noch im selben Haus wohnen. Zudem führt die Strafuntersuchung, die delikate Bereiche des Familienfriedens und der Privatsphäre tangiert, zwangsläufig zu grossen psychischen Belastungen für die betroffenen Familienangehörigen. In prozessualer Hinsicht kommt schliesslich noch Folgendes hinzu: Sowohl das mutmassliche Opfer, das sich als Privatklägerin hat statuieren lassen und über eine amtliche Prozessbeistandschaft verfügt, als auch der Hauptbeschuldigte sind je durch Rechtsvertreter amtlich verbeiständet. Darüber hinaus ist auch die mitbeschuldigte Mutter der Beschwerdeführerin (privat) anwaltlich vertreten. Weitere prozessuale Komplikationen ergeben sich im Übrigen aus dem Umstand, dass hier ein Opfer im Kindesalter über Handlungen gegen seine sexuelle Integrität zu befragen ist (vgl. Art. 152-154 StPO) [E. 4.5].

Die Liste der möglichen Komplikationen liesse sich bestimmt noch verlängern. Die Verweigerung der amtlichen Verteidigung in einem solchen Fall kann nur damit erklärt werden, dass das Institut der Verteidigung nicht richtig verstanden wird.