Rechtskraft schützt vor Vergesslichkeit nicht

Das Bundesgericht heisst in BGer 6B_944/2008 vom 22.04.2009 eine Beschwerde der zuständigen Staatsanwaltschaft gut und ordnet an, dass über einen Widerruf nachträglich zu entscheiden sei.
Der zu beurteilende Sachverhalt lässt sich dem Bundesgerichtsentscheid wie folgt entnehmen:
  • Am 03.08.2004 wird A. bedingt aus dem Strafvollzug entlassen bei einer Probezeit von drei Jahren (Reststrafe 637 Tage).
  • Während der Probezeit begeht er weitere Delikte, wofür er am 26.04.2007 in einem neuen Urteil rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wird. Zum Widerruf der bedingten Entlassung äussert sich das Kriminalgericht nicht.
  • Am 23.01.2008 wird A. erneut bedingt entlassen und unmittelbar danach fremdenpolizeilich ausgeschafft.
  • Am 17.04.2008  hat das Kriminalgericht  aufgrund einer Meldung des Strafregisterbehörde die bedingte Entlassung vom 03.08.2004 in einem neuen Entscheid widerrufen.
  • A. führt dagegen erfolgreich Rekurs. Das Obergericht hebt den Widerrufsentscheid des Kriminalgerichts auf. Es ist der Meinung, dass eine nachträgliche Anordnung der Rückversetzung in einem separaten Entscheid nicht möglich sei (Rechtskraft, “ne bis in idem”). 
  • Das Bundesgericht seinerseits stützt nun die Auffassung des Kriminalgerichts.
Das Urteil des Bundesgerichts überzeugt nur zum Teil (s. unten). Es stellt sich aber insbesondere auch die Frage, ob der Betroffene am Verfahren nach seiner Abschiebung in sein Heimatland überhaupt teilnehmen konnte. Geäussert hat er sich vor Bundesgericht jedenfalls nicht.
In der Sache argumentiert das Bundesgericht wie folgt:
 2.3 Es ist sachgerecht, diese Grundsätze [Asperationsprinzip bei retrospektiver Konkurrenz, Art. 49 und 344 ABs. 2 StGB] auch anzuwenden, wenn entgegen der Regelung von Art. 89 Abs. 6 StGB keine Gesamtstrafe ausgesprochen worden ist. Hat das Gericht – aus welchen Gründen auch immer – die offene Reststrafe bei der Bemessung der neuen (unbedingten) Freiheitsstrafe nicht berücksichtigt, so muss dies ähnlich der Regelung von Art. 344 Abs. 2 StGB korrigiert werden können. Andernfalls würde die Rückversetzung in den Strafvollzug verunmöglicht, was der gesetzlichen Regelung von Art. 89 Abs. 1 StGB widerspräche, wonach diese Sanktion bei Nichtbewährung zwingend anzuordnen ist. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung kann es nicht darauf ankommen, ob der Verurteilte mit einem nachträglichen separaten Entscheid über die Rückversetzung zu rechnen hat oder nicht. Ein bedingt aus dem Strafvollzug Entlassener, der während der Probezeit rückfällig wird, muss davon ausgehen, dass über die Frage der Rückversetzung formell entschieden wird. Aus dem blossen Umstand, dass im neuen Strafurteil dazu nichts ausgeführt wird, lässt sich nicht herleiten, der Strafrest bleibe unangetastet. Selbst wenn der Betroffene sich darüber irren sollte, kann jedenfalls keine Rede davon sein, ein nachträglicher Widerruf sei nach Treu und Glauben ausgeschlossen. Weshalb im Übrigen das Prinzip “ne bis in idem” tangiert sein soll, ist nicht erkennbar. Bei der Bildung einer (nachträglichen) Gesamtstrafe werden die Straftaten, welche bereits in einem rechtskräftigen Urteil behandelt wurden, nicht erneut beurteilt, weshalb der Täter auch nicht zweimal verfolgt wird. Wie das Bundesgericht kürzlich entschieden hat (BGE 6B_765/2008 vom 7. April 2009 E. 2.4.1), ist bei der Bildung der Gesamtstrafe nach Art. 89 Abs. 6 StGB die neue Strafe als “Einsatzstrafe” durch einen zu widerrufenden Teil der noch offenen Reststrafe zu erhöhen. Die “Einsatzstrafe” bleibt damit unberührt und bei der “Erhöhungsstrafe” geht es um deren teilweisen nachträglichen Vollzug. Durch die sinngemässe Anwendung des Asperationsprinzips wird der rückfällige Täter im Vergleich zum Kumulationsprinzip sogar privilegiert (a.a.O.).
(vgl. zur Bildung der Gesamtstrafe meinen früheren Beitrag).