Rechtskraft wichtiger als Wahrheitsfindung
Wie schwierig es nach schweizerischem Recht ist, dass auf ein Revisionsgesuch nach Art. 410 ff. StPO überhaupt eingetreten wird, zeigt ein aktuelles Beispiel aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGer 6B_127/2020 vom 20.07.2021). Es geht um die Neubeurteilung von Sexualstraftaten, zu denen der Gesuchsteller nach mehreren Befassungen durch das Bundesgericht schliesslich doch rechtskräftig verurteilt worden war.
Als Revisionsgrund legte der Gesuchsteller ein Schreiben der Hausärztin des Opfers ins Recht, das Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Opfers belegen sollte. Das Bundesgericht zweifelt zunächst an der Verwertbarkeit des Schreibens (Berufsgeheimnis und verweigerte Entbindung gemäss BGer 2C_270/2018 vom 15.03.2019), lässt die Frage aber dann – dies zu Recht – offen (E. 1.4). Es hält aber das neue Beweismittel – unausgesprochen in m.E. unzulässiger antizipierter Beweiswürdigung – für ungeeignet:
Der Beschwerdeführer will mit dem Schreiben der Hausärztin den Inhalt und den Ablauf des Gesprächs zwischen der Praxisassistentin und dem Opfer, d.h. die Entstehungsgeschichte des Vorwurfs der Vergewaltigung, belegen. Die Vorinstanz geht zutreffend davon aus, die im Schreiben enthaltenen Wahrnehmungen seien nicht aussagekräftig, weil die Hausärztin am Gespräch zwischen der Praxisassistentin und dem Opfer nicht teilgenommen habe. Die Hausärztin war bei der Äusserung des Opfers, es sei vergewaltigt worden, nicht anwesend. Insofern kann sie sich zum Zeitpunkt, wann und in welchem Kontext das Opfer diese Aussage gemacht hat, nicht äussern. Das Thema des Telefonats zwischen der Praxisassistentin und der Ärztin, ob eine sexuelle Belästigung ausreicht, um ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis auszustellen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Damit lässt sich nicht belegen, was die Praxisassistentin und das Opfer diskutiert haben. Auch wenn ein Beweis im Strafrecht vom Hörensagen nicht grundsätzlich unzulässig ist (vgl. Urteil 6B_48/2020 vom 26. Mai 2020 E. 5.3 mit Hinweisen), durfte die Vorinstanz von einem sehr geringen Beweiswert der Angaben der nicht am Gespräch beteiligten Hausärztin ausgehen, der nicht geeignet ist, zur Gutheissung der Revision zu führen. Es fehlt mithin an der Relevanz oder Erheblichkeit der neuen Tatsache (Urteil 6B_399/2018 vom 16. Mai 2018 E. 3.1). Dass die Vorinstanz auf das Revisionsgesuch nicht eintritt, entspringt weder einer willkürlichen Beweiswürdigung noch verletzt dies Bundesrecht (E. 1.5, Hervorhebungen durch mich).
Das ist m.E. falsch, wenn man dem Beweismittel wie hier das Bundesgericht den Beweiswert nicht grundsätzlich abspricht. Natürlich hat der Brief allein keinen allzu hohen Beweiswert. Er könnte aber zusammen mit den weiteren notwendigen Abklärungen (Dynamik des Gesprächs, das auf die Ausstellung eines Arztzeugnisses ausgerichtet war; Befragung der Praxisassistentin), dennoch entscheidend werden. Das aber wäre Aufgabe des Sachrichters. Es ist daher m.E. falsch, nicht einmal einzutreten. Das Bundesgericht hätte nach der hier vertretenen Auffassung gutheissen müssen.
Für Sie ist ja die formelle Wahrheit auch wichtiger als die materielle…
Ich weiss es nicht. Die materielle habe ich in einem nach juristischen Regeln geführten Verfahren noch nie angetroffen und werde sie auch nie antreffen können.
…das tut mir leid für Sie: Zumindest die Überzeugung davon wäre ja grundsätzlich wünschenswert… um dann mit formellen Mitteln möglichst der materiellen Wahrheit “zum Durchbruch” zu verhelfen… 😉
Die Unterscheidung zwischen formeller und materieller Wahrheit ist sowieso unnötig. Im Strafprozess kann es nur eine Wahrheit geben: Die strafprozessuale, d.h. nach den Regeln der StPO (und ggf. unter Berücksichtigung des höherrangigen Rechts) ergründete Wahrheit. Diese kommt unter Achtung der Spielregeln der StPO zustande – inkl. ihrer Beweisverwertungsverbote und darin inhärenten Abwägungen (über die in Lehre und Praxis freilich keine Einigkeit herrschen).
Diese Diskussion läuft letztlich darauf hinaus, inwieweit der Staat rechtswidrige Beweismittel nicht verwerten soll, ggf. zum Nachteil anderer grundrechtlich geschützten Positionen (wenn z.B. ein Beweis in einem Mordprozess nicht verwertet wird, achtet der Staat zwar einerseits seine Pflicht dem Beschuldigten ein rechtstaatlich korrektes Verfahren zu “liefern”, verletzt bzw. gefährdet zumindest die ebenso grundrechtliche Pflicht das Leben des Opfers und ggf. das aller Menschen der Gesellschaft zu schützen).
Sollte es hier zu einem falschen Urteil gekommen sein, in welchem ein “Unschuldiger” verurteilt wurde, ist dies natürlich bedauernswert. Noch bedauernswerter ist aber, dass solche Vorbringen nicht während des laufenden Strafverfahrens vorgebracht worden sind. Offensichtlich handelt es sich bei diesem Schreiben nicht um ein echtes Novum. Schlussendlich will das Bundesgericht verständlicherweise sich nicht mit “alten Leichen” befassen, die längst rechtskräftig sind. Das Problem liegt dabei also nicht an dieser Rechtsprechung, sondern dass die Praxisassistentin / die Hausärztin im Strafverfahren offenbar zu wenig befragt worden sind.