Rechtsmissbräuchliche Verteidigung?
Die konsequente Ausübung der Verteidigungsrechte wird von der Justiz mitunter auch unter dem Aspekt des Rechtsmissbrauchs geprüft. Ein festgestellter Rechtsmissbrauch rechtfertigt dann jeweils, dass das Gesetz für die Strafbehörden nicht mehr gilt.
Ein Beispiel für solche Überlegungen ist der Privatverteidiger, der kurz vor der Hauptverhandlung, die unmittelbar vor Eintritt der Verjährung angesetzt ist, das Mandat niederlegt oder einfach nicht erscheint.
In Fällen von notwendiger Verteidigung führte das zwingend zur Verschiebung der Hauptverhandlung und damit zum Eintritt der Verjährung. Daraus muss man aus Sicht der Verteidigung die Pflicht ableiten, die Verhandlung platzen zu lassen (Art. 128 StPO). Die Praxis behilft sich dann beispielsweise so, dass sie den Fall nicht mehr als Fall von notwendiger Verteidigung qualifiziert. Ein solches Beispiel findet sich in einem aktuellen Entscheid des Bundesgerichts (BGE 6B_90/2019 vom 27.08.2019, Publikation in der AS vorgesehen):
Die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung sind im zu beurteilenden Fall nicht erfüllt. Der Beschwerdeführer hat weder Untersuchungshaft ausgestanden, noch hat ihm eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme gedroht oder war er unfähig, seine Verfahrensinteressen zu wahren. Zudem war er im Untersuchungsverfahren zunächst von Rechtsanwalt Dr. G. und seit dem 29. August 2017 durch seinen früheren Rechtsanwalt Dr. H. verteidigt (…). Am 12. Juli 2018 legte dieser zwar sein Mandat ohne Angabe von Gründen nieder (…). Für die Phase nach der Mandatsniederlegung durch den früheren Verteidiger hat indes insofern keine Notwendigkeit für eine Verteidigung bestanden, als die Staatsanwaltschaft am 23. Juli 2018 auf ihre persönliche Teilnahme an der Verhandlung verzichtet hat. Damit sind die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gemäss Art. 130 lit. d StPO weggefallen. Es mag zutreffen, dass die Verfahrensleitung die Bundesanwaltschaft nach der Terminierung der Hauptverhandlung (…), nachdem diese gegen die Ansetzung der Hauptverhandlung keine Einwände erhoben hatte (…), vorgeladen hat (…) und dass die Bundesanwaltschaft im Anschluss daran ihr Erscheinen angekündigt hat (…). Dies schliesst indes nicht aus, dass die Bundesanwaltschaft zu einem späteren Zeitpunkt auf die persönliche Vertretung der Anklage vor Gericht verzichten durfte, zumal sie nicht von Gesetzes wegen zum persönlichen Auftreten verpflichtet war (Art. 337 Abs. 3 StPO) und entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers (…) von der Vorinstanz auch nicht zwingend vorgeladen worden ist (Art. 337 Abs. 4 StPO). Zudem wurden in der Verhandlung keine neuen Beweise abgenommen und waren keine besonderen Schwierigkeiten in sachverhaltsmässiger oder rechtlicher Hinsicht zu erwarten, welche eine Teilnahme der Bundesanwaltschaft hätten als notwendig erscheinen lassen (…). Im Übrigen ist der Verzicht der Bundesanwaltschaft auf das persönliche Erscheinen an der Hauptverhandlung vor dem Hintergrund zu sehen, dass der frühere Verteidiger des Beschwerdeführers sein Mandat kurze Zeit vor der Verhandlung und damit – angesichts der drohenden Verjährung – zur Unzeit niedergelegt hat. Auch im Rahmen der notwendigen Verteidigung verdient eine missbräuchliche Berufung auf die Verteidigungsrechte, namentlich die Benutzung des Rechtsinstituts zur Verfahrensverzögerung, keinen Schutz (BGE 131 I 185 E. 3.2.4). Angesichts der drohenden Verjährung (vgl. angefochtenes Urteil S. 8) durfte die Vorinstanz von einer Verschiebung der Hauptverhandlung absehen (E. 1.5).
Aber was ist mit dem Anspruch auf wirksame Verteidigung und die freie Wahl seines Verteidigers? Kein Problem, denn schliesslich erfolgte die Mandatsniederlegung zur Unzeit und damit rechtsmissbräuchlich und trölerisch:
Bei dieser Sachlage kann offenbleiben, ob die – noch vor dem Verzicht der Bundesanwaltschaft auf Teilnahme an der Verhandlung angesetzte – Frist zur Ernennung eines neuen Verteidigers angesichts der unmittelbar bevorstehenden Hauptverhandlung angemessen bzw. realistisch war, um eine effektive Verteidigung zu gewährleisten.
In diesem Kontext ist auch keine Verletzung des Rechts auf erbetene Verteidigung ersichtlich. Zwar trifft zu, dass die beschuldigte Person gemäss Art. 129 Abs. 1 StPO berechtigt ist, in jedem Strafverfahren und auf jeder Verfahrensstufe einen Rechtsbeistand im Sinne von Art. 127 Abs. 5 StPO mit ihrer Verteidigung zu betrauen (vgl. auch Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK). Aus dem Wortlaut der Bestimmung ergibt sich zudem, dass eine (Wahl-) Verteidigung nicht ausgeschlossen werden darf und die beschuldigte Person in der Auswahl (und im Wechsel) ihrer Verteidigung frei ist. Doch ist nach der Rechtsprechung das Recht auf Wahlverteidigung nur verletzt, wenn das Gericht an einem Verhandlungstermin festhält, ohne dass prozessuale Gründe die Ablehnung des Gesuches und die damit verbundene Einschränkung der freien Anwaltswahl rechtfertigen und das Ersuchen nicht trölerisch oder rechtsmissbräuchlich ist (…). Da der frühere Verteidiger des Beschwerdeführers sein Mandat zur Unzeit niedergelegt hat, verletzt das Festhalten der Vorinstanz an der Durchführung der Verhandlung am festgesetzten Termin das Recht auf Wahlverteidigung nicht.
Das Unzeit-Argument halte ich für falsch Es ist obligationenrechtlicher Natur und betrifft daher nur das Verhältnis zwischen Anwalt und Klient (Art. 404 Abs. 2 OR). Den Staat und seine Rechtspflege schützt es sicher nicht.
Zur Publikation vorgesehen ist der Entscheid aber wohl wegen des Insider-Tatbestands, den ich später anmerken werde.
Habe ich Sie recht verstanden, geschätzter Herr Kollege ? Sie finden es also völlig ok („konsequente Ausübung der Verteidigungsrechte“), wenn ein Strafverteidiger mit allen erdenklichen Mitteln, insbesondere auch mit glatter Obstruktion (Niederlegung des Mandates kurz vor der Hauptverhandlung, kommentarloses Nichterscheinen zur Hauptverhandlung usw.), auf den Eintritt der Verjährung hinarbeitet ? Echt jetzt ? Berufsethik, Standesregeln und so ? Läuft es auch unter „konsequenter Ausübung der Verteidigungsrechte“, wenn ein Strafverteidiger seinen Klienten im vorzeitigen Strafvollzug besucht und dabei ein Handy in die Strafanstalt hineinschmuggelt und unzensierte Briefe hinausschmuggelt ? Oder wenn er vor der Haupverhandlung vorgeladene Zeugen aufsucht und sich mit Ihnen über die bevorstehende Verhandlung etwas „austauscht“ ? Oder wenn er sich kurz vor dem Strafantritt des Klienten bei einem gut befreundeten Arzt mit entsprechender Neigung ein „ärztliches Zeugnis“ besorgt, das Hafterstehungsfähigkeit verneint ? (Alles Beispiele aus der Praxis übrigens). Alles ok soweit, oder gibt es selbst für Sie Grenzen ?
@Jürg Fehr: Die Frage ist nicht, ob er darf. Die Frage ist, ob er muss. Welche Regel wäre denn bei der Mandatsniederlegung konkret verletzt (und wie wäre es, wenn der Mandant selbst das Mandatsverhältnis auflösen würde)? Die Grenzen setzen das Gesetz (und nach Art. 128 StPO auch die Standesregeln, die aber anderen Zwecken dienen). Ihre Praxisbeispiele (Schmuggeln von Gegenständen oder Kassibern und der Austausch mit Zeugen) überschreiten nach Lehre und Rechtsprechung die Grenzen. Hingegen das ist das Arztzeugnis ja wohl eher wieder nicht das Problem des Anwalts (es sei denn, dieser stifte zu einer Falschbeurkundung an). Also: Es gibt Grenzen und die definiert das Gesetz. Rechtsstaat und so.
Genau. Das wurde hier auch gemacht. Denn das Rechtsmissbrauchsverbot ist ebenfalls Teil unseres Rechtssystems und es musste nur die Frage beantwortet werden, was in der konkreten Konstellation höher zu gewichten ist. Eine klassische Richteraufgabe.
Egal wie man legalistisch argumentiert: Es ist wahrscheinlich schon so, dass ein (unbekannter) Teil der Richter in solchen Fällen “einknickt” und das Verfahren verjähren lässt; dies aus Angst vor einer Aufhebung aus formellen Gründen.
Deswegen: Gratulation an Bundesstrafrichter Stefan Heimgartner, das war eine starke Leistung in Sachen Verfahrensleitung. Da hat jemand Rückgrat gezeigt.
Und was genau ist Rechtsmissbrauch? Gibt es auch einen Grundrechtsmissbrauch? Was ist es? Früher hat man die Anrufung eines Beweisverbots als rechtsmissbräuchlich bezeichnet, wenn der Beweis die Wahrheit offenbarte. Ist das heute wieder so oder immer noch so? Rechtsmissbrauch ist m.E. eine inhaltlose Formel, um Verhalten zu sanktionieren, das einem nicht passt. Aber ich bin gespannt, ob mir jemand den Rechtsmissbrauch rechtlich verständlich erklären kann.
Art. 3 Abs. 2 StPO auferlegt das Gebot von Treu und Glauben sowie das Rechtsmissbrauchsverbot ausdrücklich nur (!) die Strafbehörden. Von der beschuldigten Person steht dort zu Recht nichts. Die StPO kennt (bewusst) keine allgemeine Rechtsgrundlage, um eine beschuldigte Person infolge rechtsmissbräuchlichen Verhaltens zu sanktionieren. Dies ist folgerichtig, da keine Pflicht zur Mitwirkung an der eigenen Verurteilung besteht. Um diese sicherzustellen, verfügen die Behörden über genügend Zwangsmittel und genügend lange Verjährungsfristen. Die Strafbehörden haben somit kein Anrecht auf ein “faires Verhalten” der beschuldigten Person im Strafverfahren, daher ist jegliches Verhalten erlaubt, sofern es gesetzlich nicht verboten wurde. Einschränkungen um einem Missbrauch entgegen zu wirken, müssen und sind verschiedentlich gesetzlich vorgesehen (z.B. Art. 108 Abs. 1 Bst. a StPO, Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO). Aus der Verfassung lässt sich kein allgemeines Rechtsmissbrauchsverbot zu Lasten einer beschuldigten Person ableiten (Art. 190 BV). Art. 2 ZGB gilt für die beschuldigte Person im Strafverfahren natürlich nicht.
Herrlich…
Hier geben gestandene Verteidiger von sich aus offen zu, dass sog. “rechtsmissbräuchliches Verhalten” zu einer guten Verteidigung gehört bzw. dass Verteidiger sogar verpflichtet seien, zu diesem Mittel zu greifen.
Das zeigt einmal mehr, dass Verteidiger von Natur aus kein Interesse daran haben, dass ein Strafprozess schnell, effizient und kostengünstig durchgeführt werden kann und dass die “Wahrheit” bzw. die “materielle Wahrheit” ans Licht kommt. Dass sich Verteidiger in öffentlichen Diskussionen bzw. bei Gesetzgebungsrevisionen immer wieder für “Verschlimmbesserungen” der StPO einsetzen, erscheint mit Bezug auf das soeben Geschriebene demnach verständlich (siehe bspw. Siegelung). Problematisch hingegen ist, wenn sich die Verteidiger dabei jeweils als die Hüter des Rechtsstaats aufspielen. Es geht den Verteidigern nämlich offenkundig nicht darum, den unbescholtenen Bürger vor dem ach so übermächtigen Staat zu schützen, sondern einzig darum, ihre tatverdächtigten Mandanten mit allen nur erdenklichen Mitteln (meistens auf Kosten des Steuerzahlers) vor einer Verurteilt zu schützen.
@kein Verteidiger: Ihr Votum offenbart, dass Sie das Konzept des Strafprozesses und der Wahrheitsfindung nach diesem Konzept nicht einmal im Ansatz begriffen haben (klugerweise haben Sie es anonym abgegeben). Im Schlusssatz liegen Sie – offensichtlich ohne es zu realisieren – aber gar nicht so schlecht. Es geht den Verteidigern danach “einzig darum, die tatverdächtigen Mandanten mit allen nur erdenklichen Mitteln vor einer Verurteilung zu schützen”. Fast richtig. Fast Art. 128 StPO. Da steht, worum es der Verteidigung zu gehen hat, wenn sie ihre Berufspflichten erfüllen soll. Was ich jetzt aber jetzt noch immer nicht weiss: was ist rechtsmissbräuchlich?
@kein Verteidiger: Melden Sie sich doch nochmals, wenn Sie zu Unrecht in einem Strafverfahren sind, eine Verurteilung gleichwohl nicht ausgeschlossen werden kann und Ihr Verteidiger Ihnen die Mandatsniederlegung zwecks Verjährung vorschlägt!
Kann sein…. Aber dann labeln Sie doch bitte zukünftig bei Aufsätzen im Zusammenhang mit Rechtsentwicklung und Rechtsfortbildung einfach, dass es ihnen einzig und allein darum geht, die StPO bzw. das Strafverfahren so zu verkomplizieren, dass die Gesetze nicht mehr angewandt bzw. durchgesetzt werden können.
@kein Verteidiger: gut, dass sie wenigstens wissen, um was es mir geht (als ob das relevant wäre).
1. solange jemand nicht verurteilt ist, gilt er als unschuldig. wenn die verjährung vor der verurteilung eintritt, wird nicht verhindert, dass ein schurke seiner gerechten strafe zugeführt wird, sondern er ist im sinne des gesetzes unschuldig. dies ist ein unumstösslicher grundpfeiler des strafprozesses. 2 wenn sie als beschuldigter zu einem anwalt gehen und diesem zehntausende von franken honorar bezahlen, wollen sie dann, dass dieser sie mit allen mitteln vor einer gefängnisstrafe zu bewahren versucht und sich dabei womöglich bei gericht unbeliebt macht, oder sind sie der meinung, er solle von winkelzügen absehen, so dass sie halt im gefängnis landen? ist der anwalt nicht primär vertreter der interessen des beschuldigten?
Die Schuldzuweisung ist völlig falsch und umgekehrt wird auch ein Schuh daraus: Meiner Erfahrung nach ergibt sich die Möglichkeit der Verjährung eigentlich nur deshalb, weil die Staatsanwälte – die ja die Verfahrensleitung innehaben! – eben bei weitem nicht so effizient arbeiten, wie es angebracht wäre und von den Strafverteidigern gefordert wird (Stichwort notwendiger Aufwand / Honorarkürzungen). Der Rechtsmissbrauch liegt somit eher beim Staat, der das Verfahren nicht mit der gebotenen Energie vorantreibt, obwohl er die Möglichkeit dazu hat und die Verjährungsfristen lang genug sind! Der Strafverteidiger, der diese Situation am Ende ausnützt – wozu er meines Erachtens aufgrund seiner Stellung und seines Auftrages sogar verpfllichtet ist – ist dann bloss das letzte Glied in der Kette, der nach dem Motto “den letzten beissen die Hunde” auch noch als Winkeladvokat desavouiert wird.
Der professionelle Anwalt ist ausschliesslich den Interessen seines Mandanten verpflichtet. Diese merkwürdige CH-Justiz, die mit Ihren politischen Richtern stark an die ex-DDR erinnert und wo Verletzungen der EMRK offenbar zum Alltagsgeschäft vieler Richter gehören, hat nicht Anderes verdient.
@irgendwer: Ihre DDR-Vergleiche und angeblich täglichen EMRK-Verletzungen sind nichts als haltlose Polemik. Nicht jede falsche Setzung eines Kommas ist eine EMRK-Verletzung. @kj: Wenn Sie ein Anwendungsbeispiel für Rechtsmissbrauch möchten: Voilà, die wahllose und unsubstantiierte Rüge der EMRK-Verletzung kommt dem schon sehr nahe. Ich habe es langsam satt, dass auf meinem Buckel Schabernack getrieben wird!
@EMRK: unbegründete Rügen werden hoffentlich zurückgewiesen. Den Rechtsmissbrauch sehe ich immer noch nicht. Als Parteivertreter bin ich bereits mangels Entscheidungskompetenz doch gar nicht in der Lage, das Recht zu missbrauchen. Aber noch einmal: ich bin gerne bereit zu lernen, wenn es mir jemand erklärt.
@kj: Abstrakte Umschreibungen des Rechtsmissbrauchs gibt es zur Genüge. Zweckwidrige Verwendung eines Rechtsinstituts, widersprüchliches Verhalten etc. Wenn zum Beispiel eine Nachfrist zur Verbesserung des Rechtsmittels verlangt wird, obwohl genau bekannt ist, was die formellen Anforderungen sind etc. etc. Was ein Rechtsmissbrauch letztlich ist, kann nicht gesagt, sondern nur gezeigt werden. Was “rot” heisst, lässt sich letztlich auch nicht sagen, sondern nur zeigen. Lesen Sie Wittgenstein.
@EMRK: Wittgenstein ist auf meiner Seite.
@kj: Warum meinen Sie? Weil Sie endlos fragen? Ein Zweifel ohne Ende ist kein Zweifel.
Ja genau. Aber Diskussionen mit einer Maskierten sind mir nach einer Weile zu schwierig.
Mir ist aber auch nicht vollständig klar, was ein Rechtsmissbrauch ist, obwohl mir die Beispiele geläufig sind. Das scheint eine Generalklausel dafür zu sein, wenn man die Konsequenzen der Ausübung tatsächlich bestehender Rechte blöd findet.
Irgendwer muss ja entscheiden, dass ein Rechtsinstitut zweckwidrig verwendet wird. Das bedingt eine Wertung, die vermutlich nur für Leute selbsterklärend ist, die über “gesunden Menschverstand”, “gesundes Volksempfingen” oder weiss der Geier was verfügen. Mein Verdacht ist, dass die unausgesprochene Wertung oft lautet: “Verteidigung darf einer Verurteilung nicht im Wege stehen.”
@kj: na dann eben nicht. @mr: ja, dass irgendwer entscheiden und eine wertung vornehmen muss, stimmt. Es nennt sich justiz. Und was ein rechtsmissbrauch ist, weiss ich auch nicht, jedenfalls nicht so, wie sie das wohl gerne hätten: eine sprachliche umschreibung, die keine weiteren fragen zulässt. Ich weiss in diesem sinne übrigens auch nicht, was “verhältnismässigkeit” heisst, was “verschulden” heisst, was “skrupellosigkeit” heisst etc.
Ist es nur mir aufgefallen, dass das Bundesgericht die Namen der Anwälte rechtswidrig publiziert?
Offensichtlich sollen die Anwälte diszipliniert werden. Nach dem Motto: “Bestrafe einen, erziehe Hunderte”
Rechtsanwalt B. lässt grüssen.
@kj: Rechtsmissbrauch ist die zweckwidrige Einnahme einer Rechtsposition. Man verwendet bspw. ein Rechtsinstitut, um damit Ziele zu verfolgen, welche mit dem Sinn und Zweck des Rechtsinstituts nichts zu tun haben. Bspw. ein Aktenbeizugsgesuch, welches der Umgehung der Siegelung dient.
@kj: Wegen unscharfen Rechtsbegriffen gibt es Richter. Niemand argumentiert, dass “Fair Trial” oder “Unvoreingenommenheit” oder “Substantiierungslast” nicht gelten, nur weil die Begriffe unscharf oder auslegungsbedürftig sind.
@Alex: Strafprozessrecht ist nicht mit StPO gleichzusetzen. Es gibt im Strafprozessrecht diverse weitere Rechtsquellen, bspw. EMRK, BV und eben Bestimmungen mit Verfassungscharakter. Das RM’Verbot gilt bspw. auch im Verwaltungsrecht.
@Irgendwer: Namen der Parteivertreter werden (meistens) publiziert, genauso wie die Namen der Richter und Staatsanwälten, die von Ausstandsbegehren betroffen sind. Nehmen Sie das nicht persönlich, niemand will sie dadurch disziplinieren.
Letztlich gilt: Gute Anwälte müssen manchmal mittels zweckwidrigen legalen Positionen argumentieren; gute Richter stoppen sie dabei. Um es philosophisch auszudrücken: “It’s all in the game, yo” (Omar Little)
@Verfassungsrechtler: ja damit kann man endlich mal was anfangen. Herzlichen Dank. Ausgangspunkt der Diskussion war ja die Mandatsniederlegung kurz vor de Hauptverhandlung. Kann man das nun als rechtsmissbräuchlich bezeichnen?
Legale Rechtsposition: Jeder hat Anspruch darauf, einen (neuen) Verteidiger zu mandatieren. Der neue Verteidiger hat Anspruch auf eine angemessene Einarbeitungszeit in den Fall, weswegen grundsätzlich ein Anspruch auf Verschiebung der HV besteht.
Zweckwidrige Anwendung der legalen Rechtsposition: Ich vereinbare im Geheimen mit meinem Verteidiger, dass dieser das Mandat kurz vor der HV niederlegt, damit die HV verschoben werden muss und der Fall verjährt (da kein erstinstanzliches Urteil mehr möglich ist). Grund für die Niederlegung ist das Herbeizwingen der Verjährung, und nicht ein gestörtes Mandatsverhältnis.
Urteil: Das Gericht war offenbar der Ansicht, dass vorliegend der Anschein besteht, dass der Verteidigerwechsel inszeniert wurde.
Fazit: Wenn schon der sehr unwahrscheinliche Fall eintritt, dass in einem verjährungsgefährdeten Verfahren kurz vor der HV “zufälligerweise” das Vertrauensverhältnis mit dem Verteidiger plötzlich nicht mehr gegeben ist, müsste man die Gründe dafür sachlich darlegen. Wenn sachliche Gründe bestehen, ist das alles kein Problem, eine Verschiebung ist dann halt notwendig. Wenn aber keine sachlichen Gründe bestehen, wurde ein Verfahrensrecht missbraucht.
@Verfassungsrechtler: Der Verteidiger legt das Mandat nieder und teilt dem Gericht am Tag der Hauptverhandlung mit, dass er seinen Mandanten durch die Mandatsniederlegung in die Verjährung retten will. Variante: Der amtliche Verteidiger erscheint mit derselben Begründung nicht zur Hauptverhandlung.
Ergebnis 1: Einstellung des Verfahrens (bei notwendiger und bei amtlicher Verteidigung m.E. zwingend)
Ergebnis 2: Strafverfahren / Disziplinarverfahren gegen Verteidiger? m.E. kan beides nicht zu einer Verurteilung führen.
Es geht im zitierten Fall um erbetene Verteidiger bei nicht notwendiger Verteidigung.
Amtliche Verteidiger können das Mandat nicht einfach ohne Zustimmung der VL niederlegen. Wenn sie einfach aus der HV rauslaufen, dann ist eine Ordnungsbusse rechtens (1B_321/2015 ). Und allenfalls gibt es dann nachher ein Standesverfahren. Ob ein Urteil, welches auf einer entsprechenden HV ohne amtlicher Verteidiger bestand haben wird, weiss ich nicht.
Wie es beim erbetenen Verteidiger bei einer notwendigen Verteidigung ist, weiss ich auch nicht. Da gibt es noch keine Judikatur dazu. Man wird schauen, wie sich die Geschichte entwickelt.
Wie erwähnt, das sind schwierige Abwägungen. Niemand kennt den Ausgang. Alleine schon deswegen ist es fraglich, wie dem Klienten besser gedient ist.
@Irgendwer: Namen der Parteivertreter werden (meistens) publiziert, genauso wie die Namen der Richter und Staatsanwälten, die von Ausstandsbegehren betroffen sind. Nehmen Sie das nicht persönlich, niemand will sie dadurch disziplinieren.
Sprechen Sie aus Erfahrung?
Ich bin mir sehr sicher, dass Sie aus Erfahrung sprechen. Nichts anderes wird von diesem System auch erwartet.