Rechtsmittelweg im Entsiegelungsverfahren
Das Bundesgericht tritt auf eine Beschwerde gegen einen erstintanzlichen Entsiegelungsentscheid trotz Vorliegens der Sachurteilsvoraussetzungen nicht ein und weist die Angelegenheit an das seiner Meinung nach zuständige kantonale Obergericht zur Instruktion des Beschwerdeverfahrens nach Art. 393 ff. StPO (BGer 1B_595/2011 vom 21.03.2012). Das Nichteintreten begründet es dann aber doch mit Art. 80 BGG (double instance).
Das Bundesgericht wird aber auch in Zukunft Beschwerden gegen Entsiegelungsentscheide entgegennehmen, behält sich jedoch vor, sie
in ausserordentlich umfangreichen bzw. komplexen Fällen die Beschwerde nicht gleich selbst zu behandeln, sondern an die Beschwerdeinstanz gemäss Art. 20 und 393 ff. StPO zu überweisen und darauf (vorerst) nicht einzutreten, um den gesetzgeberischen Willen auch in diesen wichtigen Fällen zum Tragen zu bringen (E. 5.4).
Die Begründung ist zwar absolut nachvollziehbar, ändert aber nichts daran, dass das Bundesgericht einmal mehr vom klaren Wortlaut des Gesetzes abweicht:
Wie aufgezeigt wurde (E. 2.3 hiervor), ging es dem Gesetzgeber mit der Regelung des Entsiegelungsprozederes in Art. 248 Abs. 2-4 StPO vor allem um ein rasches Verfahren (vgl. auch Art. 5 Abs. 1 StPO und Art. 29 Abs. 1 BV). Mit diesem Ziel vor Augen hat er bestimmte kurze Fristen eingeführt für das Gesuch um Entsiegelung und den Entscheid darüber. Allerdings hat er nicht bedacht, dass der direkte Weiterzug des Entsiegelungsentscheids ans Bundesgericht das Verfahren in komplexen Fällen wie dem vorliegenden mit einer sehr grossen Zahl von Dokumenten im Ergebnis wiederum verlängert, weil das Bundesgericht nicht dafür ausgerüstet ist, solche Datenmengen rasch sichten und bearbeiten zu können. Wohl mag die direkte Anfechtung von Entsiegelungsentscheiden beim Bundesgericht im Normalfall eine Beschleunigung herbeizuführen. Bei sehr umfangreichem Material und vielen umstrittenen Sachverhaltsfragen, namentlich in grossen Wirtschaftsstraffällen, tritt jedoch ein “Kippeffekt” ein: Zufolge der mangelnden Dotierung und Ausrüstung für solche Spezialfälle und der Konzentration von Beschwerdeangelegenheiten beim Höchstgericht dauert ihre Beurteilung nicht weniger lang, sondern im Gegenteil länger als bei Einhaltung des zweistufigen Rechtsmittelweges und insbesondere länger als beabsichtigt und tragbar. Das Ausschalten des vormals bestehenden und auf dem Gebiet der Rechtshilfe grundsätzlich immer noch vorgesehenen Beschwerdewegs (vgl. E. 2.4 hiervor) führt somit dazu, dass die Ziele des Gesetzgebers gerade in den komplexen Entsiegelungsfällen nicht erreicht werden können. Um dem Sinn und Zweck der Regelung zum Durchbruch zu verhelfen, ist es deshalb unumgänglich, in solchen Extremfällen – und nur in diesen – den normalen StPO-Beschwerdeweg (gemäss Art. 20 und 393 ff. StPO) vorzusehen und den Weiterzug an das Bundesgericht (nach Art. 80 BGG) erst im Anschluss daran zuzulassen. Dieses Vorgehen lässt erwarten, dass auch in den komplexen Verfahren eine endgültige Beurteilung innert nützlicher Frist erfolgen kann, da die sehr umfangreichen Beschwerdefälle zunächst dezentral, auf die Kantone verteilt bzw. beim eigens dafür ausgerüsteten Bundesstrafgericht, anfallen und sachverhaltsmässig ergänzt werden, und erfahrungsgemäss nicht alle Fälle und nicht alle umstrittenen Fragen an das Bundesgericht weitergezogen werden (“Filterwirkung”) [E. 5.3].
Ich finde die Begründung ganz und gar nicht nachvollziehbar. Verdankenswerterweise hat fel. in der heutigen NZZ ausführlich und kritisch über dieses neuerliche Fehlurteil aus Lausanne berichtet.
http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/schweiz/bundesgericht-schafft-zusaetzliche-vorinstanz_1.16503490.html
Sein treffender Kommentar ist leider nicht online verfügbar.
Passend dazu auch ein Kommentar von NZZ-Bundesgerichtskorrespondent Markus Felber (fel.) in der heutigen Zeitungsausgabe:
http://shorttext.com/7JQdnaM
An der Begründung ist so rein gar nichts nachvollziehbar.
Das Bundesgericht weigert sich eine glasklare Zuständigkeit gemäss Gesetz wahrzunehmen, weil es den Aufwand (fachlich und administrativ) scheut. Stattdessen wälzt es diesen Aufwand gesetzeswidrig auf untere Instanzen ab. Dabei unterstellt es den unteren Gerichten die nötige Zeit und adminstrativen Mittel zu haben, ohne darauf überhaupt einzugehen. Denn die haben die Mittel mindestens genau so wenig wie das Bundesgericht. Das Bundesgericht tut nichts, aber rein gar nichts anderes als ein mühsames Problem gesetzeswidrig weiterzureichen.
Es ist auch falsch zu behaupten, dass eine zusätzliche Rechtsmittelinstanz geschaffen wird. Diese wird nur in einzelnen Fällen geschaffen, in denen das Bundesgericht gerade keine Zeit und Lust hat. Wie werden die Fälle bestimmt? Willkürlich!