Rechtsüberholen auf Autobahn bleibt verboten
Das Bundesgericht benützt einen aktuellen Beschwerdefall, um einen Kritiker seiner Rechtsprechung zum Rechtsüberholen auf Autobahnen persönlich anzusprechen (BGE 6B_231/2022 vom 01.06.2022, Publikation in der AS vorgesehen). Gelegenheit dazu gab ihm der verurteilte Automobilist, der den Kritiker des Bundesgerichts als Rechtsvertreter für seine Beschwerde an das Bundesgericht mandatiert hat:
Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers erklärte in einer Publikation, die evidenzbasierte Auffassung des Bundesrats zur Gefährlichkeit des Rechtsvorbeifahrens auf Autobahnen widerspreche der “evidenzignoranten Rechtsprechung des Bundesgerichts”. So habe der Bundesrat der “blinden Justitia” durch Änderungen der Verordnung die “längst erhärtete Differenzierungsnotwendigkeit” zwischen Überholen/Vorbeifahren auf Autobahnen gegenüber anderen Strassenarten verordnet (MANFRED DÄHLER, Klartext: Rechtsüberholen auf Autobahnen und Begriff der “wichtigen Verkehrsvorschrift”, in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2021, S. 1-17, Rz. 26 S. 15). Das Bundesgericht hat von solcher und ähnlicher Kritik bereits Kenntnis genommen. Dennoch hielt es an seiner ständigen Praxis fest, wonach das Verbot des Rechtsüberholens auf Autobahnen eine für die Verkehrssicherheit objektiv wichtige Vorschrift ist, deren Missachtung eine erhebliche Gefährdung der Verkehrssicherheit mit beträchtlicher Unfallgefahr nach sich zieht und daher objektiv schwer wiegt. Wer auf der Autobahn fährt, muss sich darauf verlassen können, dass er nicht plötzlich rechts überholt wird. Die Reaktion des überholten Fahrzeuglenkers kann von einfachem Erschrecken bis zu ungeplanten Manövern reichen. Das Rechtsüberholen auf Autobahnen, wo hohe Geschwindigkeiten gefahren werden, führt damit zu einer erhöhten abstrakten Gefährdung der Verkehrsteilnehmer (Urteil 1C_201/2014 vom 20. Februar 2015 E. 3.5; vgl. auch BGE 142 IV 93 E. 3.2; Urteile 6B_1/2020 vom 6. Mai 2021 E. 3.2 und 4.2; 6B_994/2019 vom 29. Januar 2020 E. 3.1.2 und 3.4; je mit Hinweisen) [E. 3.3.2, Hervorhebungen durch mich].
Wieso der Entscheid publiziert werden soll, vermag ich nicht zu erkennen.
,,, ich dachte, Rechtsüberholen sei seit Anfang 2021 erlaubt???
Nein. Nur das rechts Vorbeifahren ist erlaubt, nicht das Überholen.
@HP Seipp: und auch das ist meistens ein Überholen.
Was ist der Unterschied?
Wer sich in den Strassenverkehr begibt wird ohnehin zum Straftäter.
Wenn sich auf dem linken (oder bei dreispurigen Autobahnen auf dem linken und/oder mittleren) Fahrstreifen eine Kolonne gebildet hat, dürfen die Verkehrsteilnehmenden auf der rechten Spur neu mit der nötigen Vorsicht vorbeifahren, auch wenn sich rechts noch keine Kolonne gebildet hat (Rechtsvorbeifahren).
Das Rechtsüberholen (Ausschwenken auf den rechten Fahrstreifen und Wiedereinschwenken nach links) ist verboten und wird mit einer Ordnungsbusse bestraft.
Wenn das Rechtsüberholen aber nur noch ein Ordnungsbussentatbestand ist, sollte meines Erachtens aufgrund des Grundsatzes der lex mitior (Art. 2 Abs. 2 StGB) eine Verurteilung wegen Art. 90 Abs. 2 SVG ausgesschlossen sein. Oder sehe ich dies falsch?
Wird im Urteil erklärt:
“2.3. Aus dem Gesagten folgt, dass das neue Recht das Rechtsvorbeifahren grosszügiger zulässt. Dadurch wird den Verkehrsteilnehmern auf der linken Spur in gewissen Verkehrssituationen etwas mehr Aufmerksamkeit abverlangt. Dies ändert aber nichts daran, dass das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen verboten bleibt, was nunmehr sogar als Sonderregel für Autobahnen und Autostrassen festgehalten wird (Art. 36 Abs. 5 Satz 1 VRV). Zwar wurde die Möglichkeit geschaffen, ein solches Manöver mit Ordnungsbusse zu ahnden (Ziff. 314.3 Anhang 1 OBV). Doch ist weiterhin eine Verurteilung wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG auszusprechen, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind.
Wird mit dem Rechtsüberholen eine erhöhte abstrakte Gefährdung geschaffen, dann wird dies auch nach der Revision der Verkehrsregelnverordnung als gleich strafwürdig bewertet. Entsprechend besteht für die Anwendung des Grundsatzes der “lex mitior” im vorliegenden Fall kein Raum.”
« …auf Autobahnen, wo hohe Geschwindigkeiten gefahren werden… »
Seit wann ist denn das Bundesgericht für Deutschland zuständig? Spass beiseite, das hiesige Geschwindigkeitsniveau ist mit Abstand das tiefste auf dem europäischen Kontinent. Bei der Rechtsprechung des Bundesgerichts in Sachen Strassenverkehr habe ich oft den Eindruck, dass die Bundesrichter selbst gar nicht am motorisierten Verkehr teilnehmen.
Einer meiner Kunden ist Bundesrichter. Er wirkt 20 Jahre älter als er tatsächlich ist und seine Frau hat mir schon mehrmals erzählt, wie oft sie rechts überholt werden, wenn sie auf der Autobahn unterwegs sind. “Und die Raser, schlimm schlimm…” Wenn ich solche Urteile lese, denke ich an ihn.
Die Rechtsprechung des Bundesgerichts ist immer häufiger nicht mit der Lebenswirklichkeit in Einklang zu bringen. Ein Beispiel ist, dass die Regeln zum Sicherheitsabstand absolut gelten sollen. Wer beruflich fährt, weiss dass es unmöglich ist, z.B. von Zürich nach Bern einen Abstand von 60 m einzuhalten, ohne “nach hinten durchgereicht” zu werden. Ausserorts würde die absolute Einhaltung des Sicherheitsabstandes (in Kombination mit Tempo 80) dazu führen, dass Überholen schweizweit nur an einer Handvoll Stellen überhaupt möglich ist (netto Überholstrecke 360 – 720 m, wenn der Überholte 60-70 km/h fährt; die Sichtweite muss da schon 720-1440 m betragen). Spontan fällt mir keine Strecke ein, wo das tagsüber realistisch wäre.
Der Gesetzgeber und das Bundesgericht werfen darüber hinaus für Lebenssachverhalte rechtliche und praktische Probleme auf, ohne eine Lösung anzubieten. Was soll denn der Betroffene tun, dessen Vordermann die Überholspur über 38 Kilometer (mein jüngstes eigenes Erlebnis) nicht frei gibt, obwohl beide Spuren der Autobahn teilweise bis zum Horizont frei sind? Die Polizei rufen? Die kommen schon nicht, wenn zwei Autofahrer sämtliche Spuren der Autobahn bis zu Stillstand ausbremsen (selbst erlebt, angeblich kein Offizialdelikt war die Ausrede). Auf dem Pannenstreifen anhalten und warten? Nicht erlaubt. Auf die rechte Spur wechseln und versetzt hinter dem Blockierer her fahren? Ja, damit ist man aus der unmittelbaren Gefahrenzone, aber auch nur so lange, bis die hinteren Verkehrsteilnehmer unweigerlich “drücken”.
Einen legalen Ausweg aus dieser Situation gibt es nicht. Im Gegenteil, Gesetzgeber und Bundesgericht führen so erst eine konkrete (!) Gefahr künstlich herbei. In der Realität führt der einzige sichere Weg aus dieser Gefahrensituation möglichst schnell und möglichst weit rechts am Blockierer vorbei.
Das Rechtsfahrgebot und das Verbot des Rechtsüberholens gehören zu den sinnvollen Rahmenbedingungen im Strassenverkehr. 120 km/h waren in den 50erJahren vielleicht eine “hohe Geschwindigkeit”, heute sind sie es definitiv nicht mehr. Niemand wird “plötzlich rechts überholt”, wenn er nicht zuvor mehrfach massiv gegen das Rechtsfahrgebot verstossen hat und i.d.R. mehrfach erlaubt darauf aufmerksam gemacht wurde. In der Realität liegt Schwelle hoch, bis sich Betroffene trauen, rechts vorbei zu fahren.
Wer sich als Blockierer dann noch “erschreckt” oder “ungeplante Manöver” vollzieht (ihrerseits Verstösse gegen Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 3 Abs. 1 VRV), ist zur Teilnahme am Strassenverkehr schlicht nicht qualifiziert. Die Erfahrung zeigt ohnehin, dass 99% der Blockierer sehr genau wissen was sie tun, also bewusst handeln. Nicht selten wird plötzlich stark beschleunigt, gehupt oder die Lichthupe betätigt, wenn Betroffene sich der Gefahr durch den Blockierer entziehen.