Rechtswidrige Verteidigung?

Im Kanton St. Gallen hat ein Strafverteidiger seinem in Untersuchungshaft sitzenden Mandanten Kopien aus den Strafakten zugestellt. Die Anwaltskammer hat dies als objektiv schwerwiegende Verletzung der Berufsregeln qualifiziert und den Anwalt gebüsst.

Die Disziplinierung wird überhaupt erst ansatzweise verständlich, wenn man weiss, dass sich in den Akten strafbare Kinderpornografie fand, die dem Mandanten allerdings anlässlich einer Befragung vorgelegt worden war. Aus dem Entscheid des Kantonsgerichts [(Kantonsgericht, Anwaltskammer, 29. Oktober 2015 (AW.2015.39)]:

Soweit Rechtsanwalt A. die Fotos seinem Klienten im Rahmen der anwaltlichen Instruktion lediglich zeigte, kann er sich zwar auf einen Rechtfertigungsgrund im Sinne von Art. 14 StGB berufen, denn für eine wirksame Verteidigung war es wohl unabdingbar, dass er den Inhalt der Aufnahmen mit diesem besprechen konnte (Rechtfertigungsgrund der Berufspflicht gemäss aArt. 32 StGB). Gleichermassen kann sich auch die Staatsanwaltschaft auf einen Rechtfertigungsgrund (Amtspflicht gemäss aArt. 32 StGB) berufen, wenn sie dem Beschuldigten in der Einvernahme die Bilder vorlegte, denn sie musste ihm Vorhalt zu den vorgeworfenen strafbaren Handlungen machen. Dass Rechtsanwalt A. seinem Klienten die Fotos nicht nur zeigte, sondern ihm sogar Kopien davon überliess, ist nun allerdings durch keinen Rechtfertigungsgrund gedeckt. Dies war für die Verteidigung seines Klienten nicht notwendig, ebenso wenig für die Verfahrensvorbereitung durch diesen selbst. Auch der Klient hatte deshalb keinen Rechtfertigungsgrund für seinen Besitz (E. 4).

Sogar noch “bemerkenswerter” ist folgende Erwägung der Anwaltskammer:

Die Staatsanwaltschaft weist in ihrer Anzeige zu Recht darauf hin, dass es nicht angeht, wenn ein Verteidiger seinem Klienten im Rahmen des freien Verteidigerverkehrs (Art. 235 Abs. 4 StPO) bzw. bei Zustellungen unter dem Titel “Anwaltspost” kinderpornografische Abbildungen einfach überlässt, besteht doch die Gefahr einer sachfremden Verwendung oder auch einer Weitergabe an Dritte (E. 4).

Das Verwaltungsgericht als Rechtsmittelbehörde hat dann zum Glück etwas gründlicher nachgedacht, den Entscheid der Kammer aufgehoben und den Kollegen “freigesprochen” (Verwaltungsgericht, B 2015/304):

Der Beschwerdeführer hat nichts anderes getan, als die ihm von der Staatsanwaltschaft ohne entsprechende Auflage zur Einsicht überlassenen Akten zu kopieren und dem Klienten weiterzugeben. Er bewegte sich damit im Rahmen des verfassungs- und gesetzmässigen Anspruchs auf rechtliches Gehör und verhielt sich damit rechtmässig, was eine strafrechtliche oder disziplinarische Sanktion ausschliesst. Es wäre Aufgabe der verfahrensleitenden Behörde gewesen, durch Verfügung zu verhindern, dass die beschuldigte Person (erneut) in Besitz der kinderpornografischen Bilder kommt. Eine Pflicht des Anwaltes, von sich aus den voraussichtlichen Inhalt einer einschränkenden Verfügung zu antizipieren, besteht nicht. Es geht nicht an, den Beschwerdeführer für ein Verhalten disziplinieren zu lassen, das in einer Unterlassung der verfahrensleitenden Behörde selbst begründet ist (E. 4.3).

Der Entscheid ist rechtskräftig.

Es würde mich übrigens wundern, was die Anwaltskammer, der ja immerhin auch Anwälte angehören, unter Strafverteidigung versteht.