Redundanz als Sorgfaltspflichtverletzung
Bekanntlich steht den Strafbehörden ein gewisses Ermessen bei der Festsetzung der Entschädigung von amtlichen Verteidigern zu. Das Bundesgericht, das neuerdings wieder für Beschwerden der Verteidiger zuständig ist, schreitet sogar nur bei willkürlicher Festsetzung ein.
In einem aktuellen Fall beschwerte sich ein amtlicher Verteidiger erfolglos gegen die Kürzung seiner Kostennote um ca. CHF 9,000.00. Er wird den Gang nach Lausanne vermutlich bereuen, denn das Bundesgericht – in ausserordentlicher Besetzung – gefällt sich darin, ihn gleich nochmals zu demütigen (BGer 6B_433/2024 vom 04.09.2024). Der Fall war – eigentlich wie immer – nicht anspruchsvoll und der Verteidiger plädierte redundant und zu ausschweifend:
Die Vorinstanz berücksichtigte, dass nur der Beschuldigte Berufung erhoben hatte. Es sei lediglich eine bedingte Freiheitsstrafe von 17 Monaten in Betracht gekommen. Auch über die vor Erstinstanz noch beantragte Landesverweisung habe im Berufungsverfahren wegen des Verschlechterungsverbots nicht mehr entschieden werden müssen. Den Schwierigkeitsgrad des Falls stuft die Vorinstanz als “eher tief” ein. Die Akten seien zwar umfangreich, doch stellten sich “keine komplexen formellen oder prozessualen Fragen”. Dies gelte auch für die Beweiswürdigung und die Rechtsfragen. Der notwendige Zeitaufwand für deren Analyse sei deshalb im unteren Drittel des Spektrums einzuordnen. In rechtlicher Hinsicht biete der Fall keine besonderen Anforderungen, was sich auch darin widerspiegle, dass das Plädoyer des Beschwerdeführers im Wesentlichen aus Ausführungen zum Sachverhalt bestanden und kaum rechtliche Ausführungen enthalten habe. Aufgefallen seien beim Plädoyer “die teilweise redundanten und äusserst ausschweifenden Ausführungen”, die sich in einem beträchtlichen Ausarbeitungsaufwand niedergeschlagen hätten. Von insgesamt 109.58 geltend gemachten Stunden seien rund 80 Stunden darauf entfallen. Die Vorinstanz fasst zusammen, dass sowohl die Bedeutung des Falls, die Verantwortung der Verteidigung, der notwendige Zeitaufwand und die Schwierigkeit “nicht über dem unteren Wert” lägen. Dementsprechend sei der Beschwerdeführer für das Berufungsverfahren unter Berücksichtigung der geltend gemachten Aufwandspositionen und der Dauer der Berufungsverhandlung pauschal mit Fr. 9’000.– inkl. Barauslagen und MWST zu entschädigen (E. 2.2).
Diese Ausführungen bestätigt das Bundesgericht wie folgt:
Die Ausführungen des Beschwerdeführers erschöpfen sich über weite Strecken in einer unzulässigen appellatorischen Kritik am angefochtenen Entscheid. So trägt er beispielsweise vor, dass die Vorinstanz offensichtlich der Auffassung sei, “der Fall des Beschuldigten sei derart klar und es sei somit derart obsolet, diesen zu verteidigen, dass der Beschwerdeführer sich jegliche Argumente, zumindest jedoch rund 2/3 davon, sparen konnte oder hätte sparen sollen”. Dies könne nicht der Ernst der Vorinstanz sein. Damit legt der Beschwerdeführer keine Willkür dar. Gleiches gilt, wenn er vorträgt, das erstinstanzliche Urteil umfasse 200 Seiten, zumal es nicht nur den von ihm vertretenen Beschuldigten betraf, sondern auch dessen Ehefrau und dessen Bruder. Weiter trägt der Beschwerdeführer vor, er sei wohl der einzige gewesen, der alle Observationsvideos des Beschuldigten geschaut habe. Denn es dürfe “mit gutem Grund in Frage gestellt werden, ob […] irgendjemand bei der Staatsanwaltschaft, der ersten Instanz oder der Vorinstanz überhaupt jemals alle Videos oder auch nur einen (grösseren) Teil davon gesehen und überprüft [habe]”. Der Beschwerdeführer selbst trägt vor, bereits die Erstinstanz habe ausgeführt, eine stichprobenweise Durchsicht der Observationsvideos hätte ausgereicht. Auch diesbezüglich legt er nicht ansatzweise dar, weshalb die Vorinstanz bei der Bemessung seines Honorars in Willkür verfallen sein sollte. Mit ihrer schlüssigen Begründung setzt er sich nicht hinreichend auseinander (E. 2.3.2, Hervorhebungen durch mich).
Ja klar, wenn stichprobeweises Aktenstudium de m Gericht reicht, dann muss es auch dem Verteidiger reichen. Und weil das Bashing so schön ist, schiebt das Bundesgericht noch eine völlig unnötige Erwägung nach, die – man sehe es mir nach – ziemlich redundant erscheint:
Der Beschwerdeführer trägt vor, der Entscheid der Vorinstanz bedeute, dass beschuldigte Personen entgegen den klaren Vorgaben von Art. 12 lit. a des Bundesgesetzes vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA; SR 935.61) nicht mehr sorgfältig und gewissenhaft verteidigt werden sollen. Dies ist unzutreffend. Eine sorgfältige und gewissenhafte Verteidigung gebietet im Gegenteil, dass auf redundante und weitschweifige Ausführungen verzichtet wird (E. 2.3.3, Hervorhebungen durch mich).
Wird der Kollege jetzt der Anwaltsaufsicht gemeldet? Seine Redundanz war widerrechtlich. Art. 12 lit. a BGFA. Man entziehe ihm die Berufsausübungsbewilligung. Für immer! Schliesslich hat er auch die Würde der kantonalen Gerichte missachtet.
“wenn stichprobeweises Aktenstudium de m Gericht reicht” Das wäre aber sehr riskant – was ist, wenn der Schlüsselbeweis (z.B ein Alibi) nur auf einem Dokument aus 1000 vorhanden ist?
Aus dem BGE ist ersichtlich, dass gemäss Vorinstanz “von insgesamt 109.58 geltend gemachten Stunden seien rund 80 Stunden” auf die Ausarbeitung des Plädoyers entfallen (E.2.2.2). Würde das Plädoyer vorliegen, könnte man beurteilen, ob der Vorwurf der “teilweise redundanten und äusserst ausschweifenden Ausführungen” tatsächlich zutrifft.
Zudem wäre aus der Beschwerde ersichtlich, ob der Anwalt die qualifizierten Rügeanforderungen (E.1.2) wirklich nicht erfüllt hat (E.2.3-2.4).
Aber wenn die Vorinstanz Observationsvideos nur stichprobenweise durchsieht (hier stimme ich Ihnen zu, Anonymous) und trotzdem denkt, sie urteile “gestützt auf logische Schlussfolgerungen, die auf gewissenhaft festgestellten Tatsachen beruhen” (Jürg Müller, Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung im Strafprozess, Diss. Zürich 1992, S. 24) , könnte dies den objektiven Anschein der Befangenheit des Gerichts begründen.
Ausserdem schafft die gesetzliche Regelung und Gerichtspraxis bei Pflichtverteidigung ein grundsätzliches Problem (das schon früher unter den kantonalen StPO und Anwaltsgesetzen bestand):
Die Staatsanwaltschaft oder das urteilende Gericht legt die Entschädigung am Ende des Verfahrens fest (Art. 135 Abs. 2 StPO). Also jene Richter/Staatsanwälte, deren (mögliche) Rechtsverstösse der Pflichtverteidiger im Interesse seines Klienten rügen muss. Pflichtbewusste, engagierte Anwälte, die kein Blatt vor den Mund nehmen, riskieren so die Kürzung ihres Honorars. Das ist eine versteckte Disziplinarmassnahme bzw. Strafe. Und der Anwalt befindet sich damit in einem persönlichen Interessenkonflikt, den er vermeiden muss (Art. 12 lit. c BGFA), weil jeder Interessenkonflikt (bzw. schon dessen Anschein) mit der anwaltlichen Treuepflicht unvereinbar ist (wirken sich Entscheidungen, die ein Rechtsanwalt im Zusammenhang mit einem Mandat zu treffen hat, zu seinem persönlichen Vor- oder Nachteil aus, liegt ein persönlicher Interessenkonflikt vor; vgl. Giovanni Andrea Testa, Die zivil- und standesrechtlichen Pflichten des Rechtsanwalts gegenüber dem Klienten, Diss. Zürich 2001, S. 93-96).
Andererseits müssen urteilende Richter (zumindest in Fällen notwendiger Verteidigung) die wirksame Verteidigung des Angeklagten sicherstellen (z.B. EGMR-Urteil Daud gegen
Portugal vom 21. April 1998, Ziffern 38-43; https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-58154%22]}). Wie aber sollen Richter dies neutral beurteilen, wenn der Anwalt ebendiesen Richtern (schwere) Rechtsverstösse vorwerfen muss, um seinen Klienten wirksam zu verteidigen? Damit befinden sich die Richter in einem Interessenkonflikt. Sie sind in dieser Frage befangen, was den Anspruch auf unparteiische Richter verletzt.
“In einem aktuellen Fall beschwerte sich ein amtlicher Verteidiger erfolglos gegen die Kürzung seiner Kostennote um ca. CHF 9,000.00.”
Tatsächlich wurde das Honorar nicht um, sondern auf Fr. 9’000 gekürzt, d.h. um fast Fr. 18’000.
Als (amtlich notwendiger) Strafverteidiger lohnt es sich halt nicht. Da würde ich auch nur das minimum machen.
Beweisantrag abgelehnt = Arbeit wird nicht bezahlt, da ja unnötig (=erfolglos) = Anwalt bleibt auf Kosten sitzen (welcher Beschuldigter hat schon Geld).
Als Strafverteidiger ist es finanziell sinnvoller einfach die Templates der Sta zu kopieren und sich deren Meinung anschliessen. Automatisiert würde man so max. 30min pro Fall verbringen, könnte jedoch die gleichen Stunden wie die Sta verrechnen.
Dafür brauchst du auch keinen Anwalt mehr, wie wäre es wenn als Offerte der Staatsanwalt dich vertritt?
Hier wären wie dann wieder bei der Digitalisierung, wieso brauchen wir überhaupt Anwälte, Gerichte usw? Ein Tribunal würde es doch auch tun
Man sollte die Strafbehörden dazu verpflichten, ihren Arbeitsaufwand ebenfalls zu erfassen und in den Akten zu dokumentieren. Wetten, dass der Aufwand der Strafbehörden um ein Vielfaches höher ausfällt als der Verteidigeraufwand? Natürlich wäre dieses Zahlenmaterial nur beschränkt vergleichbar. Aber es würde den Strafbehörden in aller Deutlichkeit vor Augen führen, dass auch die Arbeit der Strafbehörden beträchtliche Kosten verursacht und die Strafbehörden mit ihrer meist kleinlichen Kürzerei den tatsächlichen Aufwand einer wirksamen und engagierten Verteidigung in grober Weise verkennen.
Bei der FINMA ist das Pflicht. Vgl. z.B. Verordnung über die Erhebung von Gebühren und Abgaben durch die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA-Gebühren- und Abgabenverordnung, FINMA-GebV) vom 15. Oktober 2008, SR 956.122, welche vorsieht, dass der Zeitaufwand von der FINMA zu dokumentieren und in Rechnung zu stellen ist. Die Zeitaufwands-Rapporte sind dann in den Akten einsehbar.
@Gerichtsschreiberin: Bei den meisten Staatsanwaltschaften ist es genauso. Kleiner Unterschied: wird nicht zu den Akten genommen.