Reformatorisch kassiert nach verkannter Alternativanklage
In einem SVG-Verfahren hat sich das Bundesgericht mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit auseinandergesetzt (BGer 6B_870/2018 vom 29.04.2019, Fünferbesetzung). Auf dem Weg zu dieser Auseinandersetzung waren allerdings etliche Hürden zu nehmen, die ich auch nach mehrmaligem Lesen nicht verstanden habe.
Zu beurteilen war im kantonalen Verfahren folgender Sachverhalt:
“Der Beschuldigte fuhr hinter einem Fahrzeug auf dem Überholstreifen, schloss auf und wechselte auf die Normalspur, wo er das Fahrzeug rechts überholte. Danach schloss er erneut auf ein Fahrzeug auf der Normalspur auf, bremste kurz und wechselte dann wiederum vor den überholten PW auf die Überholspur, womit er eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit der übrigen Verkehrsteilnehmer schuf und in Kauf nahm.”
Das ist gemäss Bundesgericht eine Alternativanklage (Vorsatz und Grobfahrlässigkeit!):
Die Staatsanwaltschaft klagte den Beschwerdeführer mit Anklageschrift vom 14. März 2017 “wegen grober Verkehrsregelverletzung durch Rechtsüberholen […] auf der Autobahn A1” an und führte hinsichtlich des Tatbestands die Art. 35 Abs. 1 und Art. 90 Abs. 2 SVG sowie die Art. 8 Abs. 3 und Art. 36 Abs. 5 VRV auf. In der Anklageschrift (oben Sachverhalt A) wird das Fahrverhalten geschildert und in subjektiver Hinsicht die praktisch identische Formel des Art. 90 Abs. 2 SVG verwendet. Dem Beschwerdeführer wurde normgemäss Vorsatz und Grobfahrlässigkeit vorgeworfen. Damit wurde eine Alternativanklage erhoben (Art. 325 Abs. 2 StPO), womit die Verteidigungsrechte nicht beeinträchtigt werden (…) [E. 2.4].
Für das Bundesgericht war klar, dass grobe Fahrlässigkeit vorlag. Weil auch sonst alles klar war, sei reformatorisch zu entscheiden.
Soweit der Beschwerdeführer die vorinstanzliche Annahme einer vorsätzlich-/eventualvorsätzlichen Begehung anficht, erscheint die Beschwerde begründet. Heisst das Bundesgericht die Beschwerde gut, so entscheidet es in der Sache selbst oder weist diese zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurück (Art. 107 Abs. 2 BGG). Die Sache ist liquid. Es ist reformatorisch zu entscheiden (E. 3.7)..
Deshalb lautet das Dispositiv wie folgt:
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und im Übrigen abgewiesen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 27. Juli 2018 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung der Kosten an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Das wird so begründet:
Der Beschwerdeführer unterliegt mit seinem Rechtsbegehren vollständig, nämlich dem Antrag, das Urteil aufzuheben und ihn unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten des Staates “vollumfänglich freizusprechen”. Es bleibt vielmehr beim vorinstanzlichen formellen Urteilsdispositiv. Doch ist ein Antrag auch nach der Beschwerdebegründung zu interpretieren. Dieser führt daher nach der Rechtsregel “Das Mehr enthält das Weniger” (plus in se continet quod est minus) zu einer günstigeren Qualifikation des subjektiven Tatbestands. Insoweit ist der Beschwerde ein Erfolg beschieden, der bereits im Berufungsverfahren angezeigt gewesen wäre. Das wird bei den kantonalen Verfahrenskosten zu berücksichtigen sein. Entsprechend ist die Sache zur neuen Entscheidung über die Kosten an die Vorinstanz zurückzuweisen (E. 3.7.6).
Das Obergericht des Kantons Bern wird sich freuen über diesen Entscheid, fast noch mehr als der Beschwerdeführer, der eigentlich wegen bloss fahrlässiger Begehung gestützt auf das Anklageprinzip hätte freigesprochen werden müssen.