Relative Schuldfähigkeit
Das Bundesgericht setzt sich in einem aktuellen Entscheid (BGer 6B_1363/2019 vom 19.11.2020, Fünferbesetzung) einlässlich mit den Begriffen und ihren Abstufungen auseinander, die im Anwendungsbereich von Art. 19 StGB zu prüfen sind (Schuld, Schuldfähigkeit, Steuerungsfähigkeit, Einsichtsfähigkeit). Unter Hinweis auf einen nicht publizierten Entscheid aus dem Jahr 2010 kommt es zum an sich naheliegenden Schluss, dass der Sachverständige bei der Beurteilung des Ausmasses der Verminderung der Schuldfähigkeit die Art der Straftaten nicht mitberücksichtigen darf. Weniger naheliegend erscheint mir hingegen, dass das Gericht dies dagegen sehr wohl tun muss: je schwerer die Straftat, je höher die Anforderungen an die Annahme von Schuldunfähigkeit:
Anders als der Sachverständige darf das Gericht bei der Beurteilung des Ausmasses der Verminderung der Schuldfähigkeit auch die Art der Straftaten mitberücksichtigen (Urteil 6B_1092/2009 vom 22. Juni 2010 E. 3.1 in fine). Zu beurteilen ist vorliegend eine versuchte Tötung durch Anwendung von massiver körperlicher Gewalt. Bei solchen schweren Straftaten gegen Leib und Leben sind an eine vollständige Aufhebung der Schuldfähigkeit hohe Anforderungen zu stellen. Die Vorinstanz setzt den Massstab für die Annahme von Schuldunfähigkeit daher zu Recht hoch an (E. 1.7.1).
Ist der Grad der Beeinträchtigung unklar, kommt eigentlich „in dubio pro reo“ zur Anwendung. Das ist aber dann nicht der Fall, wenn man aus der Sachverhaltsfrage eine Rechtsfrage macht, was das Bundesgericht hier annimmt:
Der Beschwerdeführer beruft sich zu Unrecht auf den Grundsatz „in dubio pro reo“. Dieser besagt als Beweiswürdigungsregel, dass sich das Strafgericht nicht von der Existenz eines für die beschuldigte Person ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41 mit Hinweisen). Zwar hat ein Freispruch mangels Schuldfähigkeit auch zu ergehen, wenn an der Schuldfähigkeit beweismässig nicht behebbare Zweifel bestehen und sich daher nicht (mehr) feststellen lässt, ob der Täter zur Tatzeit vermindert schuldfähig oder ganz schuldunfähig war (…). Vorliegend geht es jedoch nicht um eine Beweis-, sondern eine Rechtsfrage, nämlich den normativen Beurteilungsspielraum des Gerichts und die rechtlichen Anforderungen an die Annahme von Schuldunfähigkeit. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ als Beweiswürdigungsregel gelangt insoweit nicht zur Anwendung (Urteil 6B_922/2018 vom 9. Januar 2020 E. 4.3). Daraus, dass die Zweitgutachterin Dr. G. unter Hinweis auf den normativen Ermessensspielraum des Gerichts ausgehend von der Innenwelt des Beschwerdeführers auch eine gänzliche Schuldunfähigkeit für möglich hält, lässt sich daher nicht ableiten, die Vorinstanz hätte in „dubio pro reo“ von Schuldunfähigkeit ausgehen müssen. Hinzu kommt, dass Dr. G. für die Annahme von Schuldunfähigkeit wie bereits erwähnt auf ein die akute Psychose betonendes Krankheitsbild abstellt, das auf den späteren Aussagen des Beschwerdeführers basiert. Gegenteilige Sachverhaltsfeststellungen zur Dauer und zum Inhalt der Wahnvorstellungen des Beschwerdeführers waren anhand von dessen tatnahen Aussagen indes möglich. Auch insofern bestand kein Raum für eine Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“. Der Beschwerdeführer verkennt, dass der Grundsatz „in dubio pro reo“ als Beweiswürdigungsregel das Gericht nicht verpflichtet, bei sich widersprechenden Gutachten auf das für ihn günstigste abzustellen. Die Würdigung der Gutachten bleibt vielmehr auch Sache des Gerichts, wenn sich mehrere Sachverständige widersprechen (oben E. 1.2.3, Hervorhebungen durch mich).
Es folgen dann Ausführungen zur Strafzumessung und insbesondere auch zur „actio libera in causa“. Die Vorinstanz Wird hier nochmals über die Bücher gehen müssen und bei der Strafe die gesamten Umstände (Tatkomponenten) besser mitberücksichtigen müssen.
Also versteh ich das richtig, dass das BGer das Ausmass der Schuldfähigkeit (voll schuldfähig – vermindert schuldfähig – schuldunfähig etc.) als Rechts- und nicht als Tatfrage auffasst? Falls ja, dann habe ich Mühe mit dem Entscheid.. Meines Bescheidenen Erachtens ist das Ausmass der Schuldfähigkeit Tatfrage, während die Folgen davon (Freispruch, Massnahme, Strafe..) eine Rechtsfrage darstellt.
Das schöne an in dunio pro reo für den Staat ist doch das nicht jeden normalen Menschen zweifel aufkommen müssen sondern nur dem Richter. Ich kenne da Fälle da gab es gar keine Beweise sondern nur Behauptungen, aif Basis dessen jedoch der Einzelrichter zweifelsfrei (für sich die Schuld) bestätigen kommte.
Gut der allerwerteste der Gerichtsschreiberin schien seine Aufmerksamkeit mehr zu beanspruchen als das laufende Verfahren….
Die Berufung hat dann zwar korrigiert, da der Betroffene aber Einspruch gegen den Strafbefehl einreichte, blieb er auf Untersuchungs und Verfahrenskosten von 10‘000 sitzen, bei einer Sanktion von 500 Übertretungsbusse.
Ist schon Wahnsinn man wird per Strafbefehl & Erstinstanzlich wegen Vergehen veruteilt, die Berufung korrigiert auf Übertretung aber der Beschuldigte bleibt für die Verfahren verantwortlich.
Auf alle Fälle bleibt er mehr dafür Verantwortlich als der Staat dafür Verantwortlich ist ein korrektes Urteil zu Fällen.
Dann hätte der Einsprecher halt im erstinstanzlichen Verfahren beantragen müssen, er sei wegen einer Übertretung schuldig zu sprechen. Dann hätte er nämlich vollständig obsiegt und die Verfahrenskosten wären zu Lasten des Staates gegangen. Das ist gerade wieder so ein Beispiel das zeigt, dass ein Verteidiger eben nicht immer auf Freispruch plädieren sollte!
@HP Seipp: Darüber könnte man diskutieren. In den meisten (wenn nicht sogar in allen) Kantonen würden die Kosten auch bei einer Verurteilung zu einer Übertretung vollumfänglich dem Beschuldigten auferlegt.
nicht korrekt: das angesprochene Obsiegens-Konzept gilt im Strafverfahren erst ab zweiter Instanz (Art. 428 StPO), während in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung eine Kostenauferlegung davon abhängig gemacht wird, ob ein Schuldspruch erfolgt oder nicht (Art. 426 StPO). Ein übles Dilemma, wenn man der Auffassung ist, man sollte entgegen der per Strafbefehl ausgefällten Sanktion nur mit einer Busse (ohne Registereintrag) bestraft werden, das kann man sich eigentlich nur teuer erkaufen.
@ seipp. Das sehe ich nicht so. Sie nehmen bezug auf die kostenregelung im rechtsmittelverfahren (obsiegen/unterliegen). Das erstinstanzliche verfahren vor dem bezirksgericht ist kein rechtsmittelverfahren. Daran ändert auch nichts, dass eine einsprache gegen den strafbefehl zur überweisung erfolgte, da diese einsprache bekanntlich kein rechtsmittel ist. Kosten sind also zu tragen, wenn verurteilt, egal ob übertretung oder vergehen.
@aj
Im dem Falle war es sogar so das die Sanktion für das Vergehen eine Geldstrafe auf Bewährung mit 2.5 Jahren Frist zum Zeitpunkt des Urteils des Kantonsgerichtes schon abgelaufen waren, welches entsprechend viel Zeit brauchte um das Urteil zu fällen, damit war es für den betroffenen doppelt bitter.
Auf der anderen Seite war er beruflich darauf angewiesen nur wegen Übertretung und nicht wegen Vergehens verurteilt zu werden, das andere hätte ihn den Job gekostet und wäre ihm dann auch im Weg gestanden beim beruflichen Fortkommen, da er bei der Bewerbung jeweils einen Strafregisterauszug einreichen musste.
Mit anderen Worten ein doppeltes Dilema und juristisch hat er dank der langen Verfahrensdauer eigentlich einen kampf gegen Windmühlen geführt.
Die Wirkung der Strafe auf die Zukunft des Täters scheint in Tatsächlicher Hinsicht in der Findung des Strafmasses auch eher selten eine Rolle zu spielen….
Ja, das mit den v.a. erstinstanzlichen Kosten ist wirklich ein Problem. Ich hatte einen Fall, bei dem der Strafbefehl einzig deswegen angefochten wurde, weil die Strafe (offensichtlich unzulässigerweise) unbedingt ausgesprochen wurde. Der Staatsanwaltschaft wurde noch vor Überweisung ans Gericht angezeigt, dass man einen identischen Strafbefehlt einzig mit dem Unterschied, dass die Strafe bedingt ausgesprochen würde, akzeptiere. Die Stawa lehnte dies ab und der Beschuldigte wurde vom Gericht schliesslich zur selben Strafe, aber bedingt verurteilt. Er musste die gesamten Verfahrens- und Verteidigungskosten selbst tragen; aufgrund des Prinzips, dass diese eben dem Verurteilten auferlegt werden. Und es wurde ihm – trotz Bedürftigkeit und kein Bagatellfall – noch nicht einmal die amtliche Verteidigung bewilligt; mit der Begründung, dass sich keine rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten böten, obwohl ein Laie wohl kaum Ausführungen dazu machen kann, weshalb eine Strafe bedingt auszusprechen ist.