Relativierte Prozessmaximen

Ein einziger Satz des Bundesgerichts kann tausend grundsätzliche Fragen aufwerfen. Ein solcher steht in BGer 6B_520/2012 vom 05.03.2013. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Formel, die das Bundesgericht immer wieder verwendet und nicht mehr hinterfragt werden muss. Wer es trotzdem tut, läuft Gefahr, das ganze Prozessmodell in Frage stellen zu müssen:

Nach der Rechtsprechung kann der Beschuldigte den Behörden grundsätzlich nicht vorwerfen, gewissen Beweisen nicht nachgegangen zu sein, wenn er es unterlässt, rechtzeitig und formgerecht entsprechende Beweisanträge zu stellen (vgl. BGE 131 I 476 E. 2.1; 125 I 127 E. 6c/bb mit Hinweisen). Der Untersuchungsgrundsatz verpflichtet das Gericht nicht, von Amtes wegen Beweiserhebungen vorzunehmen, wenn es sich aufgrund der bereits erhobenen Beweise seine Überzeugung gebildet hat und in vorweggenommener Beweiswürdigung annehmen darf, dass die zusätzlichen Beweise nichts an seiner Überzeugung zu ändern vermöchten (vgl. BGE 136 I 229 E. 5.3; 134 I 140 E. 5.3; 131 I 153 E. 3).

Auf den Einwand des Beschwerdeführers ist nicht einzutreten, da er nicht darlegt, er habe die Einvernahme des Vertreters der H. Versicherung im kantonalen Verfahren beantragt (E. 1).

Nimmt man nur den ersten zitieren Satz, müssen Untersuchungsmaxime und materielle Wahrheit aufgegeben werden. Der Satz ist nichts anderes als ein Zugeständnis an die formelle Wahrheit und den reinen angloamerikanischen Parteiprozess. Er wird aber durch den zweiten Satz relativiert, indem er nur gelten soll, wenn sich das Gericht nicht bereits eine Überzeugung gebildet hat. Das wiederum führt die Unschuldsvermutung ad absurdum. Auch logisch ist der Satz wohl in der vom Bundesgericht formulierten Form nicht haltbar. Was nicht bekannt ist, kann schwerlich als unerheblich qualifiziert werden. Man kann sich auch ganz einfach fragen, wer als Wächterin des Gesetzes gilt und warum der Verteidigung vorgeworfen werden kann, Beweisanträge nicht gestellt zu haben.