Richterliche Befragungspflicht
Das Bundesgericht bestätigt seine Rechtsprechung zur grundsätzlichen Befragungspflicht auch im Berufungsverfahren (BGer 6B_886/2017 vom 26.03.2018).
Es kassiert einen Entscheid des Obergerichts TG mit folgender Begründung:
Im Lichte der neueren Rechtsprechung erweist sich das angefochtene Urteil als bundesrechtswidrig. Die Vorinstanz hat den Beschwerdeführer in der Berufungsverhandlung weder zur Person noch zur Sache befragt. Damit hat sie wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt. Daran ändert nichts, dass er im Untersuchungsverfahren mehrfach einvernommen und im erstinstanzlichen Verfahren zur Person sowie zur Sache befragt worden ist. Unerheblich ist auch, dass sich der Beschwerdeführer im Rahmen seines letzten Wortes zur Sache äussern konnte und der Verteidiger im Berufungsverfahren keine Befragung des Beschwerdeführers beantragt hat. Es obliegt der Verfahrensleitung, den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensgang sicherzustellen. Diese hätte daher aus eigener Initiative den Beschwerdeführer befragen müssen (vgl. BGE 143 IV 288 E. 1.4.3 S. 292; Urteil 6B_422/2017 vom 12. Dezember 2017 E. 4.3.3 mit Hinweisen) [E. 1.5].
Eine zutreffende Bemerkung: „Es obliegt der Verfahrensleitung, den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensgang sicherzustellen.“
Analog auf das Vorferfahren angewendet würde dies bedeuten, dass allein die STA für die rechtmässige und verwertbare Erhebung von Beweisen verantwortlich ist, und es nicht Sache der Verteidigung sein darf, derartige Mängel rügen zu müssen (und damit hernach für verwertbare Beweise zu sorgen).
Leider wird man vermutlich vergeblich auf diese konsequente Umsetzung warten…
Die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichts gibt hier aber schon endlich Anlass zur Hoffnung.
Und wem ist mit einer sinnlosen Befragung im Berufungsverfahren gedient? Gibt es dann noch etwas, was nicht gesagt worden ist? Kaum, sonst hätte ja der Verteidiger gefragt. Und die Gutheissung der Beschwerde führt ja nicht zu einem Freispruch. Das Berufungsgericht wird also den Beschuldigten einfach nochmals befragen, ohne dass dies wohl einen Einfluss auf das Urteil haben wird, denn entscheidend sind eh die tatnahen Aussgen zur Sache. Dann noch die Frage: Und wie geht es Ihnen heute? Wieviel verdienen Sie und wie sehen Ihre Zukunftspläne aus? Und die Richter fernab auf dem Thron in Lausanne sind dann zufrieden.
Genau. Wozu überhaupt Gerichtsverhandlungen? Ist ja eh alles klar. Sonst würde die StA ja nicht Anklagen.
Sie liefern eigentlich genau die Argumente, weshalb nicht die gleichen Richter erneut über den Fall entscheiden können…
Das Urteil überzeugt mich nicht. Wenn ein Angeklagter – gemäss Bundesgericht sogar stillschweigend ! – auf das mündliche Berufungsverfahren komplett verzichten kann, wieso soll er, zumindest wenn amtlich verteidigt, nicht auch stillschweigend auf die erneute Befragung zur Sache und Person verzichten können?
„Es obliegt der Verfahrensleitung, den gesetzlich vorgeschrieben Verfahrensgang sicherzustellen.“
Dazu sei kurz geäussert:
Ich kenne einen Fall, bei welchem bereits beim Untersuchungsverfahren einzelne Protikolle (u. a. Aussagen) bei den Behörden „verschwunden“ sind und dann das erstinstanzliche Gericht zudem den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensgang krass missachtet hat.
Das Berufungsgericht und die Verteidigung haben diese krassen Missachtungen in keiner Art beachtet und das Bundesgericht – mit inzwischen soagr kiloweise verschwunden Verfahrensakten – in ähnlicher Art ebenso.