Riskante Haftbeschwerden
Wer einen angenommenen Tatverdacht in Beton giessen will, erreicht dies am einfachsten mit einer Haftbeschwerde, mit welcher das Vorliegen des dringenden Tatverdachts gerügt wird. Dass das kaum je gelingen kann, zeigt bereits die – nach meiner Wahrnehmung – beschleunigt gegen Null tendierende Erfolgsquote von StPO-Haftbeschwerden. Wie das Bundesgericht mit dem dringenden Tatverdacht umgeht, kann einem heute publizierten Entscheid entnommen werden (BGer 7B_687/2024 vom 12.07.2024):
Im Haftprüfungsverfahren genügt dabei der Nachweis von konkreten Verdachtsmomenten, wonach das untersuchte Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen könnte. Zur Frage des dringenden Tatverdachts bzw. zur Schuldfrage hat das Bundesgericht weder ein eigentliches Beweisverfahren durchzuführen noch dem erkennenden Strafgericht vorzugreifen (BGE 143 IV 316 E. 3.1; 330 E. 2.1; Urteil 7B_69/2024 vom 21. Februar 2024 E. 3.2.1). Zu Beginn der Strafuntersuchung sind die Anforderungen an den dringenden Tatverdacht geringer als in späteren Prozessstadien. Im Laufe des Strafverfahrens ist in der Regel ein zunehmend strengerer Massstab an die Erheblichkeit und Konkretheit des Tatverdachts zu legen. Nach Durchführung der gebotenen Untersuchungshandlungen muss eine Verurteilung als wahrscheinlich erscheinen (BGE 143 IV 316 E. 3.2; Urteil 1B_1/2023 vom 30. Januar 2023 E. 3.1) [E. 3.1, Hervorhebungen durch mich].
Der Beton für den Tatverdacht, auf den sich alle künftigen Verfahrens- und leider auch die Sachrichter mit Hinweis auf das Bundesgericht stützen werden, liefert dann die Zusammenfassung der Erwägungen:
Zusammengefasst nennt die Vorinstanz mehrere konkrete Verdachtsmomente, die zum aktuell noch sehr frühen Stand der Ermittlungen auf eine Tatbeteiligung der Beschwerdeführerin an den “Falso Polizia”-Betrugshandlungen hindeuten. Es verletzt daher kein Bundesrecht, wenn die Vorinstanz den dringenden Tatverdacht gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO hinsichtlich der Tatvorwürfe des Betrugs (Art. 146 StGB), der Geldwäscherei (Art. 305bis StGB) und allenfalls der Hehlerei (Art. 160 StGB) bejaht hat (E. 3.6).
Damit sage ich natürlich nicht, dass man die prozessuale Haft aus taktischen Gründen nicht anfechten soll. Man sollte sich aber der Risiken bewusst sein und sich deshalb lieber auf die Anfechtung der speziellen Haftgründe konzentrieren.
“Damit sage ich natürlich nicht, dass man die prozessuale Haft aus taktischen Gründen nicht anfechten soll. Man sollte sich aber der Risiken bewusst sein und sich deshalb lieber auf die Anfechtung der speziellen Haftgründe konzentrieren.” .
Ich würde sagen, man soll sich lieber auf die Verteidigung vor Sachgericht konzentrieren. Auch wenn man sich auf die speziellen Haftgründe konzentriert (und nichts zum dTV sagt), so wird ein Gericht diesen (zumindest implizit) als nicht bestritten ansehen. Denn sollte dieser nicht vorliegen, so entfällt ja auch die Prüfung der speziellen Haftgründe (Ausnahme: Ausführungsgefahr).
PS: abgesehen davon kann ich auch ohne Aktenkenntnis nicht nachvollziehen, wie man vorliegend den dTV in Abrede stellen wollte…
@Anonymous: Das Problem ist halt einfach, dass die Untersuchungshaft Dein Leben zerstört. Sie zu verhindern oder zu verkürzen ist bisweilen wichtiger als das Sachurteil, das dann 12 Jahre später erfolgt. Im Haftverfahren kann man ohne Weiteres sagen, man bestreite im Rahmen dieser Beschwerde nur die besonderen Haftgründe. Es gibt ja ehrlich gesagt auch kaum Fälle, in denen ein Tatverdacht auszuschliessen wäre. Ob es dann ein einfacher Anfangsverdacht ist und/oder haftrechtlich bereits als dTV qualifiziert wird, ist oft Semantik.
Ganz abgesehen davon die Posttraumatischen Belastungstörungen die man von Hausdurchsuchungen um Uhr morgens inkl anschliessender Untersuchungshaft. Nicht Grundlos hat die sich selbst so gutfindede Schweiz eine der höchsten Selbstmordquoten in Haft und nicht Grundlos wird die Untersuchungshaft von der Folterkommission in jedem Bericht gerügt.
Mit Untersuchungshaft schädigt der Staat willentlich und wissentlich obwohl er wie oben zu lesen ist höchsten mit Wahrscheinlichkeiten vermutet, noch nicht mal Handfeste Indizien benötigt nein die Lebenserfahrung (haha) des Staatsanwaltes reicht.
Wenn sich dann wie oft herausstellt die Annahme ist falsch, versucht der Staat sich noch zu Bereichern in dem er nichz den enstanden Schaden ersetzt nein, er speisst einem mit lächerlichen Pauschalen für die Überhaft ab.
Das nennt sich dann ein Rechtstaat, schädigt psychisch und physisch seine Bürger auf Basis von Vermutungen und als Dank raubt er Ihnen noch ein Teil Ihres Vermögens. Danke Staat.
Lieber Herr John
Sind die Sie betreffenden Urteile öffentlich? Falls ja, wäre es sehr spannend, wenn sich die Blogleser ein Bild über das Ihnen mutmasslich wiederfahrene Unrecht machen könnten….
Beste Grüsse
Jack
Allein aufgrund veröffentlichter Urteile lässt sich nicht beurteilen, was (und ob in rechtsgenügender Weise) gerügt wurde und ob das Gericht entscheidrelevante Rügen wahrheitsgemäss wiedergibt. Denn die dem Urteil zugrundeliegende Beschwerde wird nicht veröffentlicht.
So kommt es (belegbar) vor, dass selbst das Bundesgericht unbequeme Beschwerden bzw. die darin erhobenen Rügen wahrheitswidrig wiedergibt und/oder Rügen gänzlich verschweigt und folglich die Beschwerde rechtswidrig abweist – ohne dass die Öffentlichkeit dies prüfen kann.
@Henry: Auch ich bin der Meinung, dass die Rechtschriften publiziert werden sollten. Ein paar wenige Belege habe ich auch, dachte dabei aber eher an Überlastung als an Manipulation.
@Henry @KJ
Das Veröffentlichen von Rechtschriften stellt einen enormen Aufwand dar, da diese vorher anonymisiert werden müssen.
Abgesehen davon, dass es Gesetze und andere Geschäftsprozesse rund um die Veröffentlichung von Urteilen gibt, ist der Anonymisierungsaufwand an sich schon eine kleine Wissenschaft:
Laut Aussage von Jean-Louis Morard, Leiter des KAV-IE (Kompetenzzentrum Amtliche Veröffentlichungen der Bundeskanzlei, Stand 2023), werden die Urteile halbautomatisch anonymisiert. Der Anonymisierungssoftware steht ein Datensatz der Parteien sowie das Urteil im ODT-Format (XML) zur Verfügung. Damit können Texte im XML-Format, wie Ortsnamen oder Parteinamen, leicht ersetzt werden (zum Beispiel wird aus “Hanspeter Müller” “A.______”). Nachdem die Software das Urteil anonymisiert hat, erfolgt wahrscheinlich eine menschliche Nachkontrolle, was den halbautomatischen Charakter des Prozesses unterstreicht.
Würden alle ODTs verwenden, könnte das Bundesgericht wohl auch den Rechtsverkehr mit der gleichen Software anonymisieren.
Wenn jedoch nur der reine Text zur Verfügung steht (also nur die Urteile oder der Rechtsverkehr, ohne Datensätze der Parteien, Ortsnamen etc.), müssten die “Zensur-Datensätze” manuell erfasst werden, was zusätzlichen Arbeitsaufwand bedeutet. Ich hatte versucht, meine eigenen Rechtsschriften automatisiert zu anonymisieren, jedoch das Projekt mittendrin abgebrochen, da momentan keine Verwendung gefunden wurde. Diese Rechtsschriften lagen mir nur in Papierform vor (mit Hyphenation und Justification um es noch schwieriger zu gestalten). Zuerst müssen diese Papierakten per OCR (Optical Character Recognition) digitalisiert werden. Der OCR-Prozess muss dabei verschiedene Sprachen gleichzeitig erkennen können, da ein Urteil in Deutsch auch französische Zeichen enthalten kann (z.B. Name des Richters oä.).
Nebenbei bemerkt: Wenn Sie mehr Hyphenation & Justification in Papier-Publikationen des BGer erfahren möchten, dann siehe: https://www.strafprozess.ch/alteri-stipulari-nemo-potest/#comment-334078
Danach muss der Text aus dem PDF extrahiert werden, wobei Papierpublikationen oft – wie erwähnt – mit Hyphenation und Justification gestaltet sind. Anschliessend kann man angeben, welche Textabschnitte ersetzt werden sollen, zum Beispiel “Hans” durch “A.____”. Dieser Aufwand kann minimiert werden, indem eine Kategorisierungs-KI automatisch die zu zensierenden Textabschnitte ermittelt bzw. vorschlägt, wie Ortsnamen und Personennamen. Das Ersetzen der Textabschnitte kann mittels “Fuzzy-Replacement” (Fuzzysearch) erfolgen, was hilfreich ist bei Rechtschreibfehlern oder Ungenauigkeiten im OCR-Text (z.B. wäre Hans, Hins, IIans das “Gleiche” im Fuzzysearch). So könnte die gesamte Rechtschrift – egal ob als Scan-PDF, “normales” PDF oder im besten Fall als Original/ODT/HTML/Docx – mit minimalem Aufwand anonymisiert werden.
Ich kann mir gut vorstellen, dass, sobald Justitia 4.0 umgesetzt ist und wir eine einheitliche Plattform bzw. Praxis im digitalen Rechtsverkehr haben, die “Zensur-Datensätze” (Ortsnamen, Personennamen, Firmennamen etc.) anhand dieser Plattform ermittelt werden könnten, was das Anonymisieren programmatisch vereinfachen würde.
Wer Interesse am Quellcode meiner Anonymisierungssoftware hat, kann sich gerne melden (GitHub Repository). Gerne gebe ich auch Zugang zur “Kategorisierungs-KI” zu, die Schweizer Ortsnamen und Personennamen relativ gut erkennen kann, allerdings Schwierigkeiten mit Firmennamen hat, da sie immer noch txtai (entity extraction) verwendet. Die Anonymisierungssoftware ist momentan nur manuell bedienbar, könnte aber mit der Kategorisierungs-KI verbunden werden, um Zensurvorschläge zu erhalten (nicht programmiert, habe vorher abgebrochen). Dennoch funktioniert sie einzeln für sich zuverlässig. Natürlich wird der Quellcode kostenfrei angeboten, jedoch möchte ich nicht, dass sie weiterverkauft oder sonst wie kommerziell genutzt wird, da ich es eventuell selbst später monetarisieren möchte.
@Laie: Danke für Ihre detaillierten Erläuterungen. Daraus schliesse ich, dass die Anonymisierung von Rechtsschriften, Entscheiden, usw. mit vertretbarem Aufwand technisch möglich ist.
@KJ: Mag sein, dass fehlerhafte Urteile (auch) auf Überlastung beruhen. Wenn aber in demselben Urteil schwere Rechtsfehler, aktenwidrige Darstellungen gehäuft auftreten, werden m.E. Versehen, Irrtümer unwahrscheinlicher. Folglich geschehen diese in solchen Fällen bewusst (theoretisch gibt es ja auch den Straftatbestand des Amtsmissbrauchs …).
Notwendiges Gegenstück der Unabhängigkeit des Richters ist seine Bindung an das Recht. Der Gesetzgeber – und vermutlich auch die Mehrheit der Öffentlichkeit – gehen davon aus, dass Richter integer sind und sich strikt ans Recht halten. Wenn sie dies aber nicht tun und die justizinterne Kontrolle (Aufhebung fehlerhafter Urteile durch eine Oberinstanz) nicht funktioniert, gefährdet dies die Rechtsstaatlichkeit und den Ruf der Justiz insgesamt. Vor allem, wenn das Bundesgericht als höchstes Gericht manipuliert. Von möglichen schweren Folgen für Betroffene ganz zu schweigen.
Deshalb bin ich bei Ihnen: Je transparenter die richterliche Entscheidfindung, desto geringer das Missbrauchspotenzial.
Manchmal kann Transparenz aber auch Einflussnahme erst ermöglichen – sagen wir, wenn Richter oder häufiger noch Politiker “unpopuläre” Entscheidungen treffen sollen. Oder wenn dadurch ein Anreiz für Selbstdarstellung entsteht.
@Anonymous: guter Punkt.
@Henry Bitte. Sehr gut gemacht! Sie haben es richtig verstanden.
Vor einer Woche habe ich einen Entscheid des Bundesgerichts (7B_219/2023) erhalten und wollte nach meinem Kommentar herausfinden, wie viel Aufwand tatsächlich dahinter steckt. Deshalb habe ich den entsprechenden Rechtsverkehr ebenfalls anonymisiert:
https://schaffhausen-info.com/wie-die-justiz-laien-verarscht/
Ich muss meine ursprüngliche Aussage revidieren: Die Anonymisierung ist sehr aufwändig.