Robathin v. Österreich
Erneut musste sich der EGMR mit Fragen um die strafprozessuale Durchsuchung von Anwaltskanzleien befassen (EGMR Nr. 30457/06 vom 03.10.2012, Robathin c. Austria; auch in: HRRS 10/2012, 402 f.), diesmal in der Konstellation, dass einer der Anwälte der durchsuchten Kanzlei beschuldigt war.
Karsten Gaede hat den Entscheid in der Online-Zeitschrift HRRS bearbeitet und in folgenden Leitsätzen zusammengefasst:
1. Auch auf der Basis einer richterlichen Anordnung, der ein tragfähiger Tatverdacht zugrunde liegt, verstoßen die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei und die in ihr stattfindenden Beschlagnahmen gegen Art. 8 EMRK, wenn die Durchsuchungsanordnung keine hinreichende Begründung dafür angibt, weshalb sie trotz eines auf Kontakte zu zwei Personen beschränkten Tatverdachts eine vollständige Kopie aller vorhandenen elektronischen Daten des verdächtigten Rechtsanwalts veranlasst.
2. Wird durch die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei in das Recht auf die Vertraulichkeit der Korrespondenz eingegriffen, muss diese Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft strikt erforderlich sein. Es müssen adäquate und effektive Schutzinstrumente eingreifen, die vor Missbrauch und Willkür schützen. In die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist insbesondere einzubeziehen, ob die Durchsuchung auf einer richterlichen Anordnung und auf einem tragfähigen Verdacht beruht, ob die Reichweite der Anordnung angemessen begrenzt wurde und ob – im Fall der Durchsuchung einer Anwaltskanzlei – ein unabhängiger Beobachter anwesend war, der für den Schutz von Material eintreten konnte, das der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt.
3. Ob ein tragfähiger Verdacht vorliegt, ist nach den zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegenden Informationen zu beurteilen. Ein späterer Freispruch des verdächtigten Rechtsanwalts macht einen zuvor bestehenden Verdacht nicht im Nachhinein unzureichend.