Rückschaufehler (hindsight bias)

Das Bundesgericht (Fünferbesetzung, BGer 6B_365/2010 vom 14.03.2011) befasst sich zum wiederholten Mal mit dem Sachverhalt, der BGE 135 IV 56 entnommen werden kann. Es geht um einen Arzt und Psychoanalytiker, welcher einer Frau eine Unbedenklichkeitserklärung ausstellte, die sie für die Herausgabe beschlagnahmter Pistolen brauchte. Es kam wie es kommen musste. Ob dem Arzt tatsächlich fahrlässige schwere Körperverletzung (Art. 125 Abs. 2 StGB) vorzuwerfen ist, steht auch nach fast acht Jahren nicht fest. Der Entscheid obliegt faktisch den “Berufskollegen” des Arztes, die sich aber bei der Erstellung von Gutachten schwerzutun scheinen: 

Der Experte hätte darstellen müssen, was eine sorgfältige Fachperson im November 2003 untersucht, was sie dabei herausgefunden hätte und zu welchen Schlüssen sie gestützt hierauf gelangt wäre. Zu diesem Zweck hätte der Experte festhalten müssen, welchen Wissensstand eine sorgfältige Fachperson im November 2003 erlangt hätte. Dies ergibt sich aus dem Gutachten nicht. Es ist unklar, ob der Experte sich wirklich in die Lage einer sorgfältigen Fachperson im November 2003 zurückversetzte oder ob er sich nicht – allenfalls unbewusst – zu sehr von den ihm zur Verfügung stehenden Akten beeinflussen liess, welche fast allesamt nach November 2003 produziert wurden und zu einem erheblichen Teil Tatsachen und Ereignisse betreffen, die erst nach November 2003 stattfanden. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Tendenz besteht, die Vorhersehbarkeit eines Ereignisses im Nachhinein zu überschätzen, was in der Psychologie als Rückschaufehler (hindsight bias) bezeichnet wird. Dem Rückschaufehler erliegen auch Fachleute wie beispielsweise Ärzte in ihrem angestammten Wissensgebiet. Werden Ärzte beispielsweise gefragt, welche von vier Diagnosen sie nach Lektüre einer Krankengeschichte als am Wahrscheinlichsten erachten, wird ihre Wahl erheblich durch die (angeblich) bereits bekannte Diagnose beeinflusst. Ärzte der Kontrollgruppe, welche die richtige Diagnose nicht kennen, überschätzen die Wahrscheinlichkeit, mit der sie die richtige Diagnose getroffen hätten (siehe MARK SCHWEIZER, Rückschaufehler oder ich wusste, dass das schiefgehen musste, in: Justice-Justiz-Giustizia, 2008/1; DERSELBE, Kognitive Täuschungen vor Gericht, eine empirische Studie, Diss. Zürich 2005, S. 209 ff., 214 f.). In Anbetracht dieser Gefahr eines Rückschaufehlers und zu dessen Vermeidung war es umso mehr geboten, im Gutachten darzulegen, durch welche Abklärungen eine sorgfältige Fachperson im November 2003 voraussichtlich welche konkreten Tatsachen in Erfahrung gebracht hätte und inwiefern diese für die Beurteilung einer Fremdgefährdung relevant sind (E. 4.13.1).

Das Bundesgericht stellt die Vorinstanz vor die Wahl, ein neues Gutachten in Auftrag zu geben oder in dubio pro reo freizusprechen:

Diese wird darüber befinden, ob ein Ergänzungsgutachten oder ein Obergutachten einzuholen oder ob darauf in der Erwägung zu verzichten sei, dass sich die entscheidende Frage im heutigen Zeitpunkt nicht mehr zuverlässig beantworten lasse. Im letzteren Fall wird die Vorinstanz den Beschwerdeführer in Anwendung der Maxime “in dubio pro reo” als Beweislastregel freisprechen, weil die Relevanz des sorgfaltswidrigen Verhaltens im heutigen Zeitpunkt nicht mehr festgestellt werden kann (E. 5).