Rückwirkender Widerruf der amtlichen Verteidigung?

Es gibt nichts, das es nicht gibt! Offenbar nach diesem Grundsatz hat das Obergericht des Kantons Aargau in einem von der Staatsanwaltschaft angestrengten Berufungsverfahren die amtliche Verteidigung mit Wirkung ex tunc (sic!) widerrufen. Angeordnet worden war sie auf Antrag des Beschuldigten im erstinstanzlichen BetmG-Übertretungsverfahren. Die Staatsanwaltschaft hatte den Antrag “aufgrund des Präjudiziencharakters des Falles” unterstützt. Das Bundesgericht scheint zwar mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass aufgrund des Bagatellcharakters des Verfahrens eine amtliche Verteidigung nicht geboten war. Dennoch musste es den Widerruf selbstverständlich kassieren, zumal der amtliche Verteidiger seine Tätigkeit im Vertrauen auf die Einsetzungsverfügung aufgenommen hatte, wozu er ja verpflichtet war. Der angefochtene Entscheid war sowohl formell als auch materiell bundesrechtswidrig (BGer 1B_632/2012 vom 19.12.2012):

Der angefochtene Entscheid ist bereits aus formellen Gründen fehlerhaft, weil der Verfahrensleiter des Obergerichts die Verfügung vom 20. Juli 2012 ohne jede Interessenabwägung ex tunc widerrufen hat. Er ist aber auch materiell bundesrechtswidrig, weil die Interessenabwägung die rückwirkende Aufhebung der amtlichen Verteidigung ausschliesst:

Der Beschwerdeführer wurde am 20. Juli 2012 als amtlicher Verteidiger eingesetzt. Es trifft zu, dass es im Verfahren gegen Y.________ um Übertretungen des Betäubungsmittelgesetzes geht, für die ihm eine Busse von Fr. 1000.- droht. Es handelt sich damit um einen Bagatellfall im Sinn von Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO, in welchem jedenfalls in der Regel keine amtliche Verteidigung gewährt wird. Allerdings stand der zuständigen Bezirksrichterin für ihren Entscheid vom 20. Juli 2012 ein gewisser Ermessensspielraum zu, und die Einsetzung eines amtlichen Verteidigers war von der Staatsanwaltschaft befürwortet worden, weil sie von diesem Verfahren eine präjudizielle Entscheidung über die Verwertbarkeit eines auf umstrittene Weise beschafften Beweismittels erwartete. Auch wenn somit die Bezirksrichterin ihren Ermessensspielraum bei der Auslegung von Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO ausgeschöpft oder möglicherweise sogar überdehnt hat, so lässt sich die Gewährung der amtlichen Verteidigung mit sachlichen Gründen rechtfertigen und ist jedenfalls nicht von vornherein unvertretbar. Das Interesse, sie unter dem Gesichtspunkt der richtigen Durchführung des objektiven Rechts rückwirkend zu korrigieren, ist unter diesen Umständen gering.
Die Verfügung vom 20. Juli 2012 wurde von der zuständigen Stelle rechtmässig erlassen. Sie ist nach dem Gesagten keineswegs derart unhaltbar, dass der rechtskundige Beschwerdeführer ihre Fehlerhaftigkeit hätte erkennen müssen und sich nicht hätte darauf verlassen dürfen. Er hat gestützt darauf die Verteidigung seines Mandanten an die Hand genommen und war dazu als amtlicher Anwalt im Übrigen auch verpflichtet. Sein Vertrauen in den Bestand der Verfügung vom 20. Juli 2012 ist damit offensichtlich schutzwürdig. Deren rückwirkende Aufhebung ist mit Treu und Glauben nicht vereinbar, die Rüge ist begründet (E. 2.3).