Rückfallwahrscheinlichkeit. Rückfallwahrscheinlichkeit?
Das Bundesgericht korrigiert die Beurteilung einer Legalprognose des Kantonsgerichts SG (BGer 6B_817/2019 vom 27.04.2020). Abgesehen davon, dass das Bundesgericht in Ermessensfragen nur bei Über-/Unterschreitung oder Missbrauch des Ermessens eingreift und die Urteile des Kantonsgerichts SG nur äusserst selten beanstandet werden, stechen hier Fragen zu Prozentzahlen ins Auge, mit denen hier gearbeitet wurde.
Gemäss Gutachten bestand grundsätzlich eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 55% innerhalb von sieben Jahren und bei 64% innerhalb von 10 Jahren. Ich bin ja nicht Mathematiker, Stochastiker, Statistiker, Kriminologe oder gar Zukunftsforscher, aber solche Zahlen können doch unmöglich wissenschaftlich belastbar begründet werden.
Mögliche Kontrollfragen an die Gutachter: wie hoch wäre bspw. die Rückfallwahrscheinlichkeit im Jahr 11, wenn der Rückfall nach 10 Jahren noch nicht eingetreten wäre? Wäre er höher oder tiefer als 55% oder 64%? Wie hoch wäre er im Jahr 5?
Aber zurück zum Entscheid und zur Prognose, die das Bundesgericht als bundesrechtswidrig korrigiert:
Der Gutachter führt aus, beim Beschwerdeführer bestehe „grundsätzlich“ eine erhöhte Rückfallwahrscheinlichkeit für die Taten, für welche er angeklagt sei. Die Rückfallgefahr liege bei 55 % innerhalb von sieben Jahren und bei 64 % innerhalb von zehn Jahren. Er relativiert diese Angaben jedoch, indem er anfügt, dass durch die mittlerweile stattgefundene Therapie sich das Rückfallrisiko vermindert habe und nun eher im unteren Bereich der in der Literatur für Körperverletzungen angegebenen Rezidivraten von 25 % bis 50 % liege (…). Entgegen der Darstellung der Vorinstanz und in Berücksichtigung der mittlerweile stattfindenden Therapie ist die Rückfallgefahr also nicht mehr als „erhöht“ zu qualifizieren, sondern im unteren Bereich anzusiedeln. Vor diesem Hintergrund kommt dem Verhalten des Beschwerdeführers nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft eine besondere Bedeutung zu. Nachdem der Beschwerdeführer sich in dieser Zeit nichts zu Schulden hat kommen lassen, kann – entgegen der Vorinstanz – nicht von einer ungünstigen Prognose ausgegangen werden. Einem allfälligen Bedürfnis nach einer spürbaren Strafe hat die Vorinstanz bereits mit dem unbedingten Teil der Freiheitsstrafe entsprochen. Die Voraussetzungen für einen bedingten Vollzug der Geldstrafe sind erfüllt. Die Beschwerde ist in diesem Punkt gutzuheissen (E. 4.4.2).
Wieso sollen 25% bis 50% eigentlich nicht mehr als erhöht zu qualifizieren sein? Wo beginnt und wo endet der „untere Bereich“?
Interessant ist, wie man den zweifellos absoluten Zahlen glauben schenkt, ohne dass nachvollziehbar ist, wie sie zustande kommen.
Genau diese Fragen stellt auch Allen Frances (ex Chefredaktor DSM 3 oder 4) in seinem Buch über die Inflation der Diagnosen. Lesenswert. Viele Argumente für die Verteidigung. In den USA kann anscheinend ein IQ Prozentpunkt über Leben und Tod entscheiden (!)
es handelt sich hierbei um gruppenstatistische Wahrscheinlichkeitsaussagen und nicht um Individualprognosen.
Vorliegend stammen die betr. Prozentwerte hochwahrscheinlich aus der Anwendung des Violence Risk Appraisal Guide (VRAG), einem bekannten und gut validierten aktuarisch-statistischen Prognoseinstrument für die Vorhersage gewalttätigen Verhaltens. Die sachverständige Person errechnete i.c. wohl einen VRAG-Summenwert von 14-20 Punkten. Dieser Summenwert entspricht der Risikokategorie 7, was „impliziert“, dass ca. 55% der Straftäter, die derselben Risikokategorie wie die beurteilte Person zugeordnet wurden, innerhalb von durchschnittlich 7 Jahren nach Entlassung in die Freiheit erneut wegen einer Gewaltdelikts angeklagt oder verurteilt (bzw. innerhalb von durchschnittlich 10 Jahren 64 %).
Wie gesagt: dies sind gruppenstatistische Wahrscheinlichkeitsaussagen und keine Individualprognosen.
„Versicherungsmathematik“..
@Martin: Danke sehr für die Erläuterungen. Sie belegen doch, dass eine individuelle Prognose mit einem solchen Instrument nicht möglich ist. Und selbst wenn doch: was ist, wenn das Risiko in den ersten bspw. drei Jahren nicht realisiert wurde? Steigt oder sinkt dann die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls in den nächsten bspw. zwei Jahren? Und rechtlich gesehen kann ein Individuum nicht danach beurteilt werden, was für andere Individuen, die derselben „Risikokategorie“ angehören, durchschnittlich gilt. Richter dürfen sich somit nicht auf solche Prognosen stützen.
Ja genau. Der VRAG gehört zu den wohl am meisten genutzten und am besten wissenschaftlich untersuchten aktuarisch-statistischen Prognoseinstrumenten für die Vorhersage gewalttätigen Verhaltens weltweit. Aber, und das wird, auch in der Schweiz, auch im Kt. Zürich, eine entsprechend sachverständige Person kaum bestreiten: eine individuelle Prognose ist (allein) gestützt auf den VRAG nicht möglich. Dies wird/wurde von den Autoren/-innen der Originalversion des VRAG (Grant T. Harris, Marnie E. Rice, Vernon L. Quinsey und Catherine Cormier) selbstredend auch zu keinem Zeitpunkt behauptet.
Was soll ich weiter dazu sagen.. es handelt sich eben um gruppenstatistische Wahrscheinlichkeitsaussagen und nicht um eine Individualprognose.
Andererseits werden in der schweiz. Praxis Prognoseinstrumente vermarktet und angewendet, die wissenschaftlich nicht untersucht/beforscht und mithin in keinster Weise validiert sind. Ist jemand daran interessiert?
Naja. Ich frage mich ob eine Prognose auf evidenten Statistiken am Schluss nicht ehrlicher ist. Die Wertung ist dann aber wieder eine andere Sache und sicherlich nicht für Individualprognosen geeignet. Da stimme ich zu.