Rückzugsfiktion nach Erledigungsprinzip
Im Kanton AG ist eine Beschuldigte nach Einsprache gegen einen Übertretungsstrafbefehl nicht zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung erschienen, obwohl sie vom persönlichen Erscheinen nicht dispensiert wurde. Das Bezirksgericht beurteilte das Ausbleiben als Rückzug der Einsprache, obwohl die Verteidigerin zur Verhandlung erschienen war. Die Anwendung der Rückzugsfiktion war gemäss Bundesgericht in diesem Fall aber nicht zulässig (BGer 6B_144/2020 vom 03.02.2021). Es erläutert die Rechtslage wie folgt:
Hat die Verfahrensleitung die beschuldigte Person zum persönlichen Erscheinen verpflichtet, gilt die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO nach der Rechtsprechung entgegen dem Wortlaut von Art. 356 Abs. 4 StPO auch, wenn die Einsprache erhebende beschuldigte Person der Hauptverhandlung unentschuldigt fernbleibt und lediglich ihr Rechtsanwalt zur Verhandlung erscheint (Urteile 6B_1201/2018 vom 15. Oktober 2019 E. 4.3.1 und 4.4.2, publ. in: Pra 2020 S. 98; 6B_1298/2018 vom 21. März 2019 E. 3.1, nicht publ. in: BGE 145 I 201; 6B_7/2017 vom 5. Mai 2017 E. 1.4 f.; je mit Hinweisen). Verlangt wird jedoch, dass die beschuldigte Person effektiv Kenntnis von der Verhandlung und der Pflicht zum persönlichen Erscheinen hat und dass sie hinreichend über die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens in einer ihr verständlichen Weise belehrt wurde. Die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO kommt nur zum Tragen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann (BGE 146 IV 286 E. 2.2 S. 289, 30 E. 1.1.1 S. 32 f.; 142 IV 158 E. 3.1 S. 159 f. und E. 3.3 S. 161; 140 IV 82 E. 2.3 S. 84 und E. 2.5 S. 85) [E. 1.1.2, Hervorhebungen durch mich].
In casu stützt das Bundesgericht seinen Entscheid darauf, dass das Dispensationsgesuch nicht korrekt behandelt wurde. Das Gericht habe das Gesuch “einzig deshalb” abgewiesen, um das Verfahren abschreiben zu können.
Vorliegend geht es um Parkbussen, die grundsätzlich im Ordnungsbussenverfahren zu ahnden sind. Die persönliche Teilnahme der Beschwerdeführerin an der Gerichtsverhandlung war nur erforderlich, weil das Bezirksgericht diese anordnete (Art. 336 Abs. 1 lit. b StPO). Die Beschwerdeführerin und ihre Verteidigerin machten wichtige Gründe im Sinne von Art. 336 Abs. 3 StPO geltend, die in der vorliegenden Angelegenheit grundsätzlich eine Dispensierung von der Pflicht zur persönlichen Teilnahme an der Hauptverhandlung rechtfertigen könnten. Die Vorinstanz hätte sich daher nicht nur mit Art. 114 Abs. 1 StPO, sondern auch mit Art. 336 Abs. 3 StPO befassen und insbesondere darlegen müssen, weshalb die Anwesenheit der Beschwerdeführerin trotz der geltend gemachten gesundheitlichen Probleme erforderlich war. Dies ist vorliegend nicht ohne Weiteres ersichtlich, da es im Wesentlichen um die Frage geht, ob die an den Fahrzeughalter adressierten Ordnungsbussen bezahlt und ob die Ordnungsbussen der Beschwerdeführerin überhaupt eröffnet wurden. Wohl ist Art. 336 Abs. 3 StPO als “Kann-Bestimmung” formuliert. Dies entbindet das Gericht jedoch nicht davon, ein Dispensierungsgesuch korrekt zu behandeln und dessen Abweisung zu begründen. Zudem erscheint es überspitzt formalistisch, wenn die Voraussetzungen für eine Dispensierung grundsätzlich gegeben wären, da wichtige Gründe vorliegen und die persönliche Anwesenheit nicht notwendig ist (Art. 336 Abs. 3 StPO), das Gericht das Gesuch jedoch einzig deshalb abweist, um das Verfahren gestützt auf Art. 356 Abs. 4 StPO abschreiben zu können. Daran ändert nichts, dass Verhinderungsgründe rechtzeitig geltend zu machen sind (vgl. Art. 205 Abs. 2 StPO) und die Beschwerdeführerin grundsätzlich bereits früher um Dispensierung von der persönlichen Teilnahme an der Hauptverhandlung hätte ersuchen können. Der angefochtene Entscheid verstösst gegen Bundesrecht, da das Dispensierungsgesuch der Beschwerdeführerin nicht korrekt behandelt wurde (E. 1.5.3, Hervorhebungen durch mich).
Es liegt mir fern, das Ergebnis zu kritisieren, weil die Rückzugsfiktion eine unwürdige und sachlich unbegründete Prozessfalle darstellt. Aber ich werde den Eindruck nicht los, dass die Beschwerdeführerin auch etwas Glück hatte. Offenbar hatte das Bundesgericht einfach den Eindruck, es sei hier allein darum gegangen, das Verfahren abschreiben zu können. Das wäre ja dann aber ein grober Vorwurf an den Sachrichter, der nicht ohne Folgen bleiben dürfte.