Rückzugsfiktion qua Dispositionsmaxime

In einem neuen Grundsatzentscheid legt das Bundesgericht den Anwendungsbereich der Rückzugsfiktion nach Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO weit aus. Danach kommt sie auch dann zum Tragen, wenn ein anwaltlich vertretener Berufungsführer, der mit seinem Anwalt in Kontakt steht, kein ordentliches Zustellungsdomizil bezeichnet (BGE 6B_998/2021 vom 22.06.2022, Publikation in der AS vorgesehen).

Fun fact 1: Erstinstanzlich war der Beschwerdeführer vom persönlichen Erscheinen dispensiert worden. Der zweiten Instanz erschien ein persönliches Erscheinen hingegen unerlässlich, denn sonst hätte sie ja nicht vorladen müssen, was sie ja gar nicht konnte, zumal ja auch eine Publikation im Amtsblatt keinen Sinn machte (vgl. dazu das zweite Zitat, unten)

Wie oben dargelegt wurde, greift die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO, weil der Beschwerdeführer nicht vorgeladen werden konnte. Sodann ist ohne Belang, ob die Verteidigung Kontakt mit dem Beschwerdeführer hatte. Unerheblich ist auch, ob er tatsächlich den Willen hatte, am Berufungsverfahren teilzunehmen. Denn es liegt in der Natur der Rückzugsfiktion, dass sie ohne weiteres greift, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Dies war vorliegend der Fall.  Es reicht nicht aus, wenn die beschuldigte Person der Verteidigung nach Kenntnis des erstinstanzlichen Urteils mitteilt, dass sie damit nicht einverstanden ist. Vielmehr muss der Wille, dass eine Überprüfung durch das Berufungsgericht erfolgt, während des Rechtsmittelverfahrens fortlaufend gegeben sein. Durch den Umstand, dass keine Vorladung erfolgen kann, wird fingiert, dass kein Interesse vorhanden ist und dass die Berufung als zurückgezogen gilt. Entscheidend ist somit die ordnungsgemässe Zustellung der Vorladung an die beschuldigte Person. Das Berufungsverfahren unterscheidet sich wesentlich vom erstinstanzlichen Verfahren, das vornehmlich auf ein materielles Urteil ausgerichtet ist. Dagegen unterliegt das Rechtsmittelverfahren weitgehend der Disposition der Parteien (vgl. dazu oben E. 1.1). So erlaubt Art. 386 StPO auch den Verzicht (Abs. 1) auf und den Rückzug (Art. 2) von Rechtsmitteln (E. 1.9.2).

Gut, aber wieso denn keine Vorladung durch Publikation im Amtsblatt? Weil Art. 88 StPO eigenständige Bedeutung hat, stupid!

Es ist davon auszugehen, dass jede Norm in der Strafprozessordnung eine eigenständige Bedeutung hat, denn andernfalls hätte sie der Gesetzgeber nicht erlassen. Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO stellt eine Spezialbestimmung für das Rechtsmittelverfahren dar, die Art. 88 Abs. 1 StPO verdrängt. Andernfalls bliebe Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO stets toter Buchstabe, da eine Vorladung grundsätzlich immer durch öffentliche Bekanntmachung gemäss Art. 88 Abs. 1 StPO publiziert werden kann. Auf der anderen Seite entleert diese Auslegung Art. 88 Abs. 1 StPO nicht seines Sinns. Denn alle anderen Verfahrensarten sind von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO nicht betroffen. Zudem beschlägt Art. 88 Abs. 1 StPO nicht nur Vorladungen, womit eine Vielzahl von Anwendungsfällen für diese Bestimmung verbleiben. Nach dem Gesagten ist im Berufungsverfahren keine Publikation der Vorladung erforderlich. Wenn die Partei, welche Berufung erklärt hat, nicht vorgeladen werden kann, dann tritt die Rückzugsfiktion nach dem klaren Wortlaut von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO sofort ein. Dies gilt für sämtliche Konstellationen, die in Art. 88 Abs. 1 StPO beschrieben werden (E. 1.6.2). 

Fun fact 2: Wie wurde dem Beschwerdeführer wohl das erstinstanzliche Urteil zugestellt? Zustellungsfiktion?

Fun fact 3: Mangels Zustellung ist das erstinstanzliche Urteil gar nie eröffnet, geschweige denn in Rechtskraft erwachsen. Insofern kann der Beschwerdeführer das Urteil des Bundesgerichts nicht zu beanstanden.