Rügepflicht schon vor Kenntnis der Urteilsbegründung

Die Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn hat einen Entscheid (STKAS.2009.12 vom 04.02.2010) ins Netz gestellt, den sie wie folgt zusammenfasst:

§§ 190 Abs. 1 lit. a StPO und 193 Abs. 3 StPO. Zum strengen Rügeprinzip nach § 190 Abs. 1 lit. a StPO. Innert 10 Tagen seit der schriftlichen Eröffnung des Urteils muss dargetan werden, worin im konkreten Fall die Verletzung eines wesentlichen Verfahrensgrundsatzes besteht. Auf eine später erhobene Rüge i.S. von § 190 Abs. 1 lit. a StPO ist nicht einzutreten, es sei denn, die Verletzung eines wesentlichen Verfahrensgrundsatzes lasse sich ausnahmsweise vor Erhalt der schriftlichen Urteilsbegründung gar nicht erkennen.

Die Strafkammer verlangt damit in bestimmten (wohl seltenen auftretenden) Fällen, dass der Beschwerdeführer Kassationsgründe nennt, bevor das begründete Urteil der Vorinstanz überhaupt bekannt ist. Das wahre Übel liegt allerdings in der unsinnigen gesetzlichen Regelung, welche die kurze Beschwerdefrist bereits beginnen lässt, bevor ein begründetes Urteil vorliegt. Dies wird so begründet:

Dass sich die Blankettstrafnorm von Art. 90 Ziff. 1 SVG im vorliegenden Fall auf das Missachten des Vortrittsrechts bezieht, geht nicht erst aus dem begründeten, sondern bereits unmissverständlich aus der vorgängig eröffneten Urteilsanzeige hervor, erwähnt doch deren Ziffer 1 diesen Regelverstoss ausdrücklich. Demnach hätte der Beschwerdeführer die allfällige Verletzung des Anklagegrundsatzes bereits innert der 10-tägigen Frist seit der schriftlichen Urteilseröffnung geltend machen können und auch müssen. Da dies aber erst nach Ablauf der Frist geschah, erweist sich die Rüge als verspätet. In diesem Punkt kann deshalb auf die Beschwerde nicht eingetreten werden.

Die Folge dieser Rechtsprechung ist, dass man vorsorglich einfach sämtliche Kassationsgründe rügen muss. Cui bono?