Sachkundiger Verteidiger aus dem Verfahren ausgeschlossen
Im Kanton Luzern wurde ein Anwalt nicht als Verteidiger des Beschuldigten A. zugelassen, weil er zuvor in einem anderen Verfahren aber im gleichen Sachverhaltskomplex den Beschuldigten G. vertreten hatte. Dass das erste Verfahren gegen G. bereits rechtskräftig eingestellt war, änderte nichts an der Meinung der Staatsanwaltschaft, die zuletzt auch vom Bundesgericht bestätigt wurde (BGer 1B_263/2016 vom 04.10.2016).
Bei allem Verständnis für die Problematik der potentiellen Interessenkollision geht das Bundesgericht in diesem Entscheid m.E. zu weit, zumal auf der Gegenseite wohl niemand auf die Idee kommen würde, den in diesem Sinne ebenfalls vorbefassten Staatsanwalt auszuschliessen. Sachkenntnis ist offenbar nur auf Seiten der Verteidigung schädlich:
Zwar ist dem Beschwerdeführer darin zuzustimmen, dass sich der ihm nach dem aktuellen Ermittlungsstand zur Last gelegte Sachverhalt von jenem unterscheidet, der G. vorgeworfen wurde. Indessen weisen die beiden Verfahren einen engen Sachzusammenhang auf: Sowohl der Beschwerdeführer als auch G. sind bzw. waren im selben Fallkomplex beschuldigt worden, am betrügerischen Erwirken von Krediten bei verschiedenen Banken beteiligt gewesen zu sein und stehen bzw. standen mutmasslich in Kontakt mit den beiden Hauptverdächtigen, den Gebrüder B. Obgleich der Beschwerdeführer in seiner Rechtsschrift vorbringt, er kenne G. nicht und wolle diesen auch nicht belasten, konnte bis jetzt im Strafverfahren noch nicht im Detail geklärt werden, welche Rolle den verschiedenen Mitangeschuldigten hinsichtlich der untersuchten Vorgänge zugekommen sein und wer welche Straftaten begangen bzw. wer welchen Tatbeitrag geleistet haben könnte. Es ist daher mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass mit Blick auf die noch ausstehenden Verfahrenshandlungen und den daraus gewonnen Erkenntnisse eine Änderung in der Prozessstrategie des Beschwerdeführers nicht auszuschliessen ist, die sich unter Umständen zu Lasten von G. auswirken könnte. Sollten dabei insbesondere neue Tatsachen bekannt werden, die für dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit sprechen und sich nicht aus den früheren Akten ergeben würden, könnte dies zu einer Wiederaufnahme des durch Einstellungsverfügung rechtskräftig beendeten Verfahrens führen (vgl. Art. 323 Abs. 1 StPO; BGE 141 IV 194 E. 2.3 S. 197 f.) [E. 2.2. Hervorhebungen durch mich].
Das ist alles theoretisch möglich, aber m.E. viel zu hypothetisch. Die Tatsache, dass die beiden Verfahren getrennt geführt wurden, änderte auch nichts. Hier wendet das Bundesgericht einen normativen Parteibegriff an, den es bei den Teilnahmerechten selbst verwirft (vgl. dazu meinen früheren Beitrag):
Überdies schliesst der Umstand, dass die Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer und G. getrennt geführt worden sind, die Annahme einer Interessenkollision nicht aus. Nach der Rechtsprechung muss eine unzulässige Doppelvertretung nicht zwingend das gleiche formelle Verfahren betreffen (BGE 134 II 108 E. 3 S. 110); massgebend ist vielmehr der Sachzusammenhang, der vorliegend – wie bereits ausgeführt – gegeben ist (E. 2.2)..
Knüppeldick kommt es dann aber, wenn das Bundesgericht auch noch das Berufsgeheimnis zum Schutz des am Verfahren nicht beteiligten G. anführt:
Vor allem aber ist es dem Verteidiger untersagt, allfällige, dem Anwaltsgeheimnis unterliegende Kenntnisse aus dem ehemaligen Mandatsverhältnis, insbesondere solche zum modus operandi der Gebrüder B., (bewusst oder unbewusst) in einem neuen zu verwenden; andernfalls würde er namentlich gegen seine Geheimhaltungs- und Treuepflicht gegenüber G. verstossen. Dies könnte sich zu Ungunsten des Beschwerdeführers auswirken, da die Möglichkeiten seines Anwalts insoweit eingeschränkt wären und dieser sich für ihn nicht voll einsetzen könnte. Mithin liegt hier eine Situation vor, die geeignet ist, eine konkrete Interessenkollision herbeizuführen. Bei einer Würdigung sämtlicher Umstände hat die Vorinstanz daher nicht gegen Bundes- oder Völkerrecht verstossen, wenn sie Rechtsanwalt X. im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht als Rechtsbeistand und Verteidiger zugelassen hat (E. 2.2).
Das Urteil ist mir zu paternalistisch. Es ist m.E. nicht erforderlich, formell unbeteiligte Dritte, beschuldigte Personen und Anwälte vor sich selbst zu schützen. Ganz abgesehen davon: was hinderte den ausgesperrten Verteidiger daran, sein Know-How mit der Zustimmung von G dem neuen Anwalt zur Verfügung zu stellen?
“Besteht zwischen zwei Verfahren ein Sachzusammenhang, so verstösst der Rechtsanwalt dann gegen Art. 12 lit. c BGFA, wenn er in diesen Klienten vertritt, deren Interessen nicht gleichgerichtet sind” E2.1
Das Gericht stellt zunächst fest, dass Anwälte nicht Mandanten mit entgegengesetzten Interessen vertreten können, und schliesst daraus, dass Anwälte nur Mandanten mit gleichgerichtetem Interesse vertreten können. Für diesen Schluss ich im Urteil jedoch weder ein Gesetz noch Richterrecht, und er führt m.E. zu einem Widerspruch:
Ein Mandant kann auch überhaupt kein Interesse, weder ein gleich- noch ein entgegengesetztes, an einem Prozessausgang im gleichen oder in einem sachverwandten Prozess für den anderen Mandanten haben. Da einer der Parteien gar kein Interesse hat, kann auch kein Konflikt derselben vorliegen, was einer Anwendung von Art 12 lit c entgegensteht.
“Eine Vertretung ist schon untersagt, wenn auch nur die Möglichkeit besteht, dass dem Berufsgeheimnis unterliegende Kenntnisse aus dem ehemaligen Mandatsverhältnis bewusst oder unbewusst verwendet werden könnten”
Auch hier fehlt eine Zitierung, und auch hier kann man einen Widerspruch herleiten: Der Anwalt hat die Kenntnisse aus seinem alten Prozess noch in seinen Akten oder im Kopf, ihre Wiederverwendung ist also, nicht nur im neuen Mandantsverhältnis, nicht unmöglich: Er kann beispielsweise unter Vorhaltung einer Pistole gezwungen werden, die Kenntnisse herauszurücken, dann liegen sie offen und können verwendet werden. Wäre die Möglichkeit der Wiederverwendung von Berufsgeheimnissen ein ausreichendes Kriterium, um eine Vertretung zu untersagen, dürften Anwälte in ihrer Laufbahn nach dem ersten Mandanten keinen weiteren mehr vertreten.
Sehr geehrter Herr Dorset,
Meines Erachtens liegen Sie – erneut – mehrfach falsch.
Der Verteidiger hat die Pflicht, die Interessen seines Klienten – und nur diese (!) – zu wahren. Folglich ist doch vernünftigerweise davon auszugehen, dass ein Verteidiger, der im gleichen Sachkomplex einen weiteren Beschuldigten vertritt, sich in einem Interessenkonflikt befindet, sofern die Interessen des zweiten Mandanten noch nicht final geklärt werden konnten. Im vorliegenden Fall ist der Interessenkonflikt sogar eklatant. Wie soll der Verteidiger sicherstellen, dass er die Interessen des ersten Klienten wahrt, wenn die Rolle des zweiten Mandanten noch völlig unklar ist? Es steht ja offenbar sogar die Frage im Raum, ob allenfalls eine Änderung der Prozessstrategie nötig sein wird. Ob der erste Mandant überhaupt ein Interesse am Verfahrensausgang hat, kann zudem erst mit Sicherheit festgestellt werden, wenn die Rolle des zweiten Mandanten geklärt werden konnte. Solange dem nicht so ist, ist m.E. ein Interessenkonflikt geradezu offensichtlich.
Zudem gehen Sie offenbar davon aus, dass ein Anwalt Berufsgeheimnisse problemlos wiederverwenden darf. Ich hoffe, dass es sich hierbei um einen Verschreiber handelt.
Danke, Kritiker, aber von einem eklatanten Interessenkonflikt spricht ja nicht einmal das Bundesgericht. Das und erst das wäre die Berufspflichtverletzung, die das Bundesgericht potentiell für möglich hält. Aber das ist das Problem des Anwalts, nicht des Staatsanwalts. Ich wüsste dann noch gern, unter welchem Titel die Verfahrensleitung einen erbetenen Verteidiger nicht zulassen kann. Ein potentieller Interessenkonflikt begründet noch lange keine unzureichende Verteidigung, welche die Verfahrensleitung (bei notwendiger Verteidigung) sicherstellen müsste.
Das Argument mit dem Berufsgeheimnis ist nicht stichhaltig. Das Berufsgeheimnis schützt den Klienten (auch den ersten) und den Anwalt. Wenn der Geheimnisherr verzichtet, ist die Verwendung völlig unproblematisch. Aber auch dieses Argument legitimiert den Staatsanwalt nicht, einen Verteidiger auszuschliessen. Der Geheimnisträger weiss selbst, was er darf und was er nicht darf. Dass er bspw. vom ersten Klienten entbunden wurde, darf er dem Staatsanwalt u.U. nicht einmal offenbaren (Berufsgeheimnis!).
Kurz: Es ist der Anwalt und nicht der Staatsanwalt, der wissen muss, ob eine Interessenkollision droht oder ob Berufsgeheimnisse zu schützen sind.
Und: Wieso darf der Staatsanwalt, der dem Amtsgeheimnis untersteht, Erkenntnisse aus einem Verfahren in einem anderen verwenden?
Was diskutiert ihr hier überhaupt? Das Bundesgericht hat richtig entschieden – und wenn ihr diese Meinung nicht teilt, dann erlaube ich mir den Hinweis, dass der Entscheid des Bundesgerichts rechtskräftig ist.
Die Verfahrensleitung muss den nicht unabhängigen Anwalt vom Verfahren ausschliessen und ihm die Prozessberechtigung entziehen können. Jeder Richter und jeder Staatsanwalt entscheidet jederzeit von Amtes wegen selbst, wer bei ihm im Verfahren zugelassen ist (BGE 138 II 167 E. 2.5.1; BGE 141 IV 257 S. 261 E. 2.2). Für was stellt man überhaupt die Unabhängigkeitsregeln und Interessenkonfliktsverbote auf? Ein Richter würde seinen Job falsch machen, wenn er Anwälte, die Interessenkonflikte haben, prozessieren liesse. Die Verfahrensleitung muss deshalb einem Anwalt, der Art. 12 lit. c BGFA verletzt, jederzeit in einem zivil-, straf- oder verwaltungsrechtlichen Verfahren von Amtes wegen die Prozessführungsbefugnis entziehen (BGE 138 II 167 E. 2.5.1).
Wenn einem Anwalt verboten wird, eine Partei zu vertreten, dann erfolgt dies zum Zweck, einen guten Verfahrensablauf zu sichern. Das ist insbesondere deshalb so, um zu verhindern, dass ein Klient die in einem früheren Prozess erworbenen Kenntnisse einer Gegenpartei zu dessen Nachteil verwenden kann. Wenn jemand in einem solchen Fall durch einen Entscheid die Möglichkeit verliert, die Vertretung seiner Interessen weiterhin durch den Anwalt seiner Wahl wahrnehmen zu lassen, oder muss er mitansehen, wie ein ehemaliger Anwalt – oder ein Partner einer seiner ehemaligen Anwälte – die Interessen einer Gegenpartei vertritt oder anderweitig Interessenkonflikte vorhanden sind, dann ist die beschwerte Partei legitimiert die Aufhebung oder der Änderung dieses Entscheids zu verlangen, der unter Mitwirkung eines solchen Anwalts mit Interessenkonflikt zustande kam. Diesbezüglich ist die Situation anders als im Disziplinarrecht (BGE 138 II 168 E. 2.5.2).
Das Anwaltsgesetz schütz die Rechtssuchenden, die einen unabhängigen Anwalt haben sollen. Wenn wir diesen Zweck nicht erfüllen möchten, kann man die Anwaltsgesetzgebung (und den Rechtsstaat oder faire Verfahren an sich) gleich ganz abschaffen und stattdessen alle Leute – unabhängig von den fachlichen und persönlichen Eigenschaften – vor Gerichten zulassen.
Genau, was diskutieren wir hier eigentlich dauernd über rechtkräftig entschiedene Fragen? Rechtskraft beendet jede Diskussion. Die Unabhängigkeit der Anwälte, die immerhin von ihren Mandanten, die man vor sich selbst schützen will, ausgewählt werden, ist ohnehin ein überflüssiges Postulat. Die (letztinstanzlich unfehlbaren) Strafrichter handeln nach dem Untersuchungsgrundsatz und der von Gesetzes wegen unabhängige Staatsanwalt untersucht zudem auch die entlastenden Umstände. Und falls er doch mal etwas übersieht, hat der Beschuldigte ja noch den Richter, der ja wie gesehen unfehlbar ist und vor seinem Anwalt schützt.
@ kj:
Sie haben was folgt geschrieben: “Wenn der Geheimnisherr verzichtet, ist die Verwendung völlig unproblematisch.” Das mag zutreffend sein. Jedoch ist im BGE nirgends davon die Rede, dass ein entsprechender Verzicht vorliegt.
Um von seinem ersten Mandanten eine entsprechende Verzichtserklärung zu erwirken, müsste der Verteidiger den ersten Mandanten transparent und vollständig (d.h. mit Hinweis darauf, dass sich der Fall – wie vorliegend offenbar möglich – später evtl. zu seinem Nachteil entwickelt) informieren. Der Verteidiger, der seinem Mandanten jedoch ein solches Vorgehen empfiehlt, gehört m.E. von der Standeskommission sanktioniert. Der Verteidiger darf sein Honorar-Lust nie über die Interessen des eigenen Mandanten stellen.
@Kritiker: Bevor er den ersten Mandanten informieren darf, muss er sich beim zweiten entbinden lassen. Es gibt nur eine Lösung: Ein Verteidiger darf nur einmal als solcher tätig werden. Danach weiss er zu viel.
Aber im Ernst: warum sollen die Mandanten nicht selbst entscheiden können, von wem sie sich vertreten lassen wollen? Warum soll der Verteidiger nicht selbst entscheiden können, wen er vertreten darf? Wenn er falsch entscheidet, hat er die Konsequenzen zu tragen. Das entscheidet aber der verratene Klient, nicht der Verfahrensleiter. Dieser darf nur eingreifen, wenn er erkennt, dass der Beschuldigte nicht wirksam verteidigt ist (und dies m.E. auch nur, wenn ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt). Alles andere verstösst gegen die immerhin auch verfassungsmässig garantierte freie Anwaltswahl.
Und noch was zur Honorar-Lust: Das Honorar und die entsprechende Abrechnung ist eine Berufspflicht, keine Berufslust. Es soll aber tatsächlich Verteidiger geben, die von ihren Honoraren leben.