Sachlogik v. “in dubio pro reo”

Privatkläger können einen Freispruch unter bestimmten Voraussetzungen auch mit der Begründung vor Bundesgericht ziehen, die freisprechende Vorinstanz habe nicht alle Beweise abgenommen. Einen solchen Fall, bei dem bereits das Eintreten auf die Beschwerde nicht ganz einfach zu begründen war, hat das Bundesgericht heute online gestellt (BGer 6B_789/2020 vom 12.08.2020). Es hat die Beschwerde der Privatklägerin gutgeheissen, u.a. mit folgender Erwägung:

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Auswertung der Datenträger weitere sachdienliche Hinweise ergeben wird. Wie bereits ausgeführt, kann der Grundsatz “in dubio pro reo” erst zur Anwendung gelangen, wenn alle notwendigen Beweise erhoben wurden. Das ist vorliegend nicht der Fall. Kommt hinzu, dass die Vorinstanz vorliegend keine antizipierte Beweiswürdigung gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung vornimmt. Hierzu hätte sie das vorläufige Beweisergebnis hypothetisch um die Fakten des Beweisantrags ergänzen und würdigen müssen. Ein solches Vorgehen der Vorinstanz ist ihrer Begründung nicht zu entnehmen (E. 2.4.3.2, Hervorhebungen durch mich).

Und wie bitte soll ein Sachrichter denn wissen können, ob nun alle notwendigen Beweise erhoben wurden? Aber egal, im Ergebnis lag natürlich keine Verletzung von “in dubio pro reo” vor, sondern eine Verletzung des Gehörsanspruchs:

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt, indem sie seinen Beweisantrag auf (beschränkte) Auswertung der Datenträger abweist. Jedoch ist die Auswertung der anlässlich der Hausdurchsuchung bei der Beschwerdegegnerin 2 sichergestellten und gespiegelten Datenträger auf die Textkommunikation zwischen der Beschwerdegegnerin 2 und dem Beschwerdeführer vom 1. Mai bis 31. Juli 2010 und vom 1. Januar bis 31. Juli 2012 zu beschränken (E. 2.4.3.6).  

Verurteilte lernen aus diesem Entscheid, dass sie vor Bundesgericht besser nicht rügen, sie seien in Verletzung von “in dubio pro reo” verurteilt worden. Sie sollten rügen, sie seien in Verletzung ihres Gehörsanspruchs verurteilt worden, was aber voraussetzt, dass sie spätestens im Berufungsverfahren ganz viele möglichst kluge Beweisanträge stellen. “In dubio pro reo” als Beweislastregel existiert nämlich sachlogisch nicht (mehr).