Säumige Parteien und Beistände
Das Kantonsgericht SZ hat ein Berufungsverfahren abgeschrieben, nachdem der Berufungskläger und sein Privatverteidiger in einem Fall von notwendiger Verteidigung nicht zur Berufungsverhandlung erschienen waren (BGer 7B_409/2023 vom 19.08.2024). Das Bundesgericht kassiert den Abschreibungsbeschluss:
Unabhängig davon, ob der private Verteidiger des Beschwerdeführers darauf vertrauen durfte, dessen Covid-19-Infektion stelle einen hinreichenden Entschuldigungsgrund für ein Fernbleiben von der Berufungsverhandlung dar oder er gestützt auf die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten als amtlicher Verteidiger nicht vielmehr gehalten gewesen wäre, dennoch an der Berufungsverhandlung zu erscheinen, stellt die gleichzeitige Abwesenheit des Beschwerdeführers und des notwendigen amtlichen Verteidigers angesichts der vorerwähnten Rechtsprechung keine Grundlage dar, damit die Rückzugsfiktion nach Art. 407 Abs. 1 lit a StPO greift. Die gegenteilige Auffassung der Vorinstanz überzeugt nicht. Vielmehr wäre sie gehalten gewesen, die Berufungsverhandlung zu verschieben und die Parteien neu vorzuladen. Darüber hinaus könnte sie – sofern sie dies als notwendig erachtet – zudem den amtlichen Verteidiger für seine aus ihrer Sicht nicht entschuldbare Abwesenheit adäquat sanktionieren (siehe vorne E. 2.2.3) [E. 2.3].
Auch wenn das Bundesgericht die Begriffe der amtlichen bzw. notwendigen Verteidigung durcheinander zu bringen scheint (es ging hier um eine private notwendige Verteidigung und um eine amtliche notwendige Verteidigung), ist sein Entscheid richtig. Zu kurz greift aber der Hinweis auf die adäquate Sanktionierung des allenfalls unentschuldigt ferngebliebenen Verteidigers. Je nach der Vereinbarung im Innenverhältnis wäre ein Erscheinen einem Klientenverrat gleichgekommen.
Weshalb soll dieser Entscheid denn richtig sein? Ich halte ihn für falsch und höchstbedenklich. Nur schon deshalb, weil der Gesetzgeber diesen Sachverhalt soweit erkennbar klar regelt, nämlich in Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO:
“Die Berufung gilt als zurückgezogen, wenn die Partei, die sie erklärt hat, der mündlichen Berufungsverhandlung unentschuldigt fernbleibt und sich auch nicht vertreten lässt.”
Das BGer weicht also mal eben vom klaren Gesetz ab. Und dies in Dreierbesetzung, in aller Kürze und ohne amtliche Publikation.
@Leser
Zur besseren Verständlichkeit: Das Bundesgericht hat in der Schweiz die letzte Entscheidungsgewalt in Rechtsfragen. Es kann Recht sprechen und Gesetze “frei” interpretieren, auch wenn dies von der ursprünglichen Gesetzesfassung abweicht. Gesetz und Rechtsprechung müssen nicht immer identisch sein. Das Bundesgericht hat auch die Befugnis, die Verfassung und internationale Abkommen frei auszulegen. Wenn Ihnen diese Praxis nicht gefällt, können Sie sich politisch für die Einführung eines Verfassungsgerichts einsetzen. Das Bundesgericht sieht das anders als Sie (und ich): Für das Bundesgericht ist deren Rechtsprechung keine Abweichung vom “klaren” Gesetzestext, sondern eine Präzisierung desselben. Sie würden die Gesetzestexte daher nicht als “klar” bezeichnen, sondern als schwammig (=interpretationsbedürftig), und sehen ihre Aufgabe darin, diese durch die Rechtsprechung “klar” zu machen bzw. zu konkretisieren.
Zum zweiten Punkt: Wie hätte das Bundesgericht Ihrer Meinung nach entscheiden sollen? Zusammenfassung des Urteils: >`Der Beschwerdeführer legte Berufung gegen ein Urteil des Strafgerichts Schwyz ein. Das Kantonsgericht Schwyz schrieb die Berufung ab, da der Beschwerdeführer und sein Verteidiger der Berufungsverhandlung fernblieben. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass dies gegen Bundesrecht verstosse, da er aufgrund einer Covid-19-Infektion nicht an der Verhandlung teilnehmen konnte [bzw. durfte] und sein [notwendiger] Verteidiger [korrekterweise] davon ausgegangen sei, dass die Verhandlung verschoben werde [bzw. muss]. Das Bundesgericht gab der Beschwerde statt und wies die Sache zur Durchführung der Berufungsverhandlung an die Vorinstanz zurück. Es stellte fest, dass die gleichzeitige Abwesenheit des Beschwerdeführers und seines [notwendigen] Verteidigers keine Grundlage für die Abschreibung der Berufung darstelle und das Kantonsgericht die Verhandlung hätte verschieben müssen.“2.2.2. Die amtliche und die notwendige Verteidigung haben an der Berufungsverhandlung persönlich teilzunehmen (Art. 336 Abs. 2 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO). Bleibt die amtliche oder die notwendige Verteidigung aus, so wird die Verhandlung verschoben (Art. 336 Abs. 5 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO).`<
Ein solch gerechtes Urteil sieht man selten vom Bundesgericht! Natürlich hat das nichts damit zu tun, dass Herr Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth (Vertreter des Beschwerdeführers) einen sehr guten und wohlverdienten Ruf in der Anwaltschaft geniesst.
@ Laie
Danke für die Hinweise. Ihre Frage kann ich nicht beantworten. Ich sehe aber nicht, was es nach Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO noch frei zu interpretieren gibt. Darin stellt sich doch nur die Frage, ob die Abwesenheit des Beschwerdeführers selber unentschuldigt ist. Dazu finde ich auch nach erneutem Lesen der kurzen Begründung nichts. Ob gerecht wie selten, das wäre dann nochmals eine Frage. Wie auch immer.
@Leser
Siehe spezifisch Art. 336 Abs. 5
Ich verstehe es so, dass eine notwendige Verteidigung bedeutet, dass eine gesetzlich vorgeschriebene anwaltliche Verteidigung erforderlich ist (z.B. ab einer bestimmten Höhe der drohenden Freiheitsstrafe). In solchen Fällen darf kein Urteil gefällt werden, wenn der Beschuldigte nicht anwaltlich vertreten ist, unabhängig davon, ob er abwesend ist oder nicht.