Scharfe Rüge an die Luzerner Justiz

Das Bundesgericht hat in einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil (1P.313/2006 vom 22.12.2006) eine in verschiedenen Kantonen gängige Praxis als verfassungswidrig qualifiziert, wonach auf ein Rechtsmittel des Beschuldigten nicht eingetreten wird, wenn dieser nicht zur zweitinstanzlichen Hauptverhandlung erscheint.

Im zu beurteilenden Fall war der in Deutschland wohnhafte Beschuldigte erstinstanzlich zu einer Zuchthausstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt worden. Für die obergerichtliche Hauptverhandlung stellte er ein Dispensationsgesuch, welches abgewiesen wurde. In den Erwägungen dieses Entscheids stellte ihm das Obergericht des Kantons Luzern (für den Fall der Bestätigung einer unbedingten Freiheitsstrafe) dessen sofortige Verhaftung anlässlich der Berufungsverhandlung in Aussicht.

Zur Verhandlung erschien nur sein Verteidiger. Dieser erklärte, an der Berufung werde festgehalten und er sei bereit, die Berufung zu begründen. Das Obergericht schrieb die Appellation dennoch “als erledigt”von der Geschäftskontrolle ab mit der Begründung, durch sein Nichterscheinen habe der Beschwerdeführer auf Appellation “verzichtet” bzw. sein “Desinteresse” daran erklärt.

Aus den Erwägungen des Bundesgerichts:

Das verfassungsmässige Grundrecht auf Appellation und wirksame Verteidigung wird jedoch unterlaufen,wenn als Folge des unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten die Berufungselbst dann als “zurückgezogen” abgeschrieben wird, wenn der Verteidiger zur Berufungsverhandlung antritt und bereit ist zu plädieren. Eine solche Konsequenz erscheint nach der dargelegten Rechtslage unverhältnismässig und verfassungswidrig. Eine Verwirkung der Appellation kann nur bei einem sogenannten “Totalversäumnis” im Sinne der dargelegten Praxis (unentschuldigtes Ausbleiben sowohl des Angeklagten als auch des Verteidigers) in Frage kommen (E. 8.1).

Diesem Argument fügte das Bundesgericht – an sich ohne Not aber in begrüssenswerter Klarheit – weitere hinzu:

Von diesen grundsätzlichen Erwägungen abgesehen, erscheint das prozessuale Vorgehen der kantonalen Justizbehörden im vorliegenden konkreten Fall auch noch aus zusätzlichen Gründen unfair, überspitzt formalistisch und unverhältnismässig. Nach Treu und Glauben (Art. 9 BV) kann hier nicht von einem (konkludenten) “Verzicht” auf die ausdrücklich erklärte Appellation ausgegangen werden […]. Hier kommt noch hinzu, dass ein gesetzlicher Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt und der Angeklagte erstinstanzlich zu einer Strafe von viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Ausserdem war der Beschwerdeführer zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung persönlich erschienen (E. 8.2).