Schlecht verteidigt?
Eine wegen eines Tötungsdelikts angeklagte, erstinstanzlich freigesprochene und zweitinstanzlich verurteilte Frau obsiegt mit ihrer Beschwerde vor Bundesgericht (BGer 6B_307/2016 vom 17.06.2016). Der Entscheid des Bundesgerichts ist lesenswert, aber wirft kein gutes Licht auf die Rechtsprechung des Obergerichts des Kantons Bern. Dieses gelangte ohne Befragung der Beteiligten zu einem Schuldspruch, obwohl die erste Instanz in weitgehender Unmittelbarkeit freisprach.
Das Bundesgericht kassiert den Entscheid aus durchaus überzeugenden Gründen:
Für die Vorinstanz drängte es sich unter den vorliegenden Umständen sachlich auf, gemäss Art. 343 Abs. 3 sowie eventualiter Abs. 1 und 2 StPO die beiden involvierten Frauen erneut zu befragen. Es lag zwar keine klassische „Aussage gegen Aussage-Situation“ vor. Eine ins Einzelne führende Befragung und Konfrontation wäre indessen umso mehr angezeigt gewesen, als die beiden einzigen direkten Tatzeuginnen, die Beschwerdeführerin und ihre Partnerin A., bis anhin offenkundig wenig Interesse an einer effektiven Aufklärung und Ausleuchtung des Geschehens bekundeten. Ferner wäre es nahe gelegen, die Zeugin B. zu befragen, welche unmittelbare Wahrnehmungen mitteilen konnte und als erste am Ort des Geschehens eingetroffen war. Selbst bei einer Zeugnisverweigerung hätten diese und allfällige weitere Personen wie etwa die forensischen Experten in Anwesenheit der Beschwerdeführerin und von A. zur Aufklärung der Sache beitragen können. Insbesondere hätte sich die Vorinstanz damit ein persönliches Bild von Aussageverhalten und Standpunkt der beiden Protagonistinnen machen können (E. 2.6).
Eine Verurteilung indiziert keine unwirksame Verteidigung. Diese ist insbesondere nicht gehalten, eine abwegige Argumentation aufrecht zu halten. Es kann durchaus angezeigt sein, die Verteidigungstrategie darauf auszurichten, die beschuldigte Person „in einem besseren Licht erscheinen zu lassen“, statt sich in einer Fundamentalopposition einzurichten, mit welcher eine Gerichtsbehörde ohnehin nicht zu beeindrucken ist. Gefragt ist Sachkompetenz. Es ist nicht ersichtlich, dass sich der frühere Verteidiger aus Verteidigerperspektive in seiner Interessenvertretung einer eklatanten Inkompetenz befleissigt hätte, wie das der heutige Rechtsvertreter behauptet (E. 2.3.4, Hervorhebungen durch mich).Die Erstinstanz hielt zur Tatversion der beiden involvierten Frauen fest: „In dieser Art – hätte es sich so zugetragen – ein seltsamer und mysteriöser Fall.“ Gleiches gelte aber auch für die Variante, wie sie der Anklage zugrunde liege. Sie schliesse die behauptete Dritttäterschaft nach durchgeführtem Beweisverfahren aus und halte eine wechselseitige Provokation und eine gegenseitige Verletzung für mindestens ebenso wahrscheinlich. Der mutmassliche Ablauf und der Tötungsvorsatz der Beschwerdeführerin seien nicht rechtsgenüglich nachzuweisen (…) [E. 2.4.2].Somit gelangte die Erstinstanz – wie bereits die Untersuchungs- und Anklagebehörden – zu keinem schlüssigen Ergebnis hinsichtlich des Vorkommnisses hinter „verschlossenen Türen“ (…), während die Vorinstanz die Beschwerdeführerin auf derselben Tatsachengrundlage schuldig sprach (E. 2.4.4).Die Vorinstanz ging davon aus, sie habe vorab zu klären, ob eine Dritttäterschaft ausgeschlossen werden könne (E. 2.4.4).Nach der Rechtsprechung kann die beschuldigte Person den Behörden grundsätzlich nicht vorwerfen, gewissen Beweisen nicht nachgegangen zu sein, wenn sie es unterlässt, rechtzeitig und formgerecht entsprechende Beweisanträge zu stellen (Urteil 6B_288/2015 vom 12. Oktober 2015 E. 1.3.2; zum Verzicht auf das Konfrontationsrecht etwa Urteil 6B_877/2014 vom 5. November 2015 E. 2.4). Strafbehörden dürfen einen Sachverhalt jedoch nur als erwiesen (oder nicht erwiesen) ansehen und in freier Beweiswürdigung darauf eine Rechtsentscheidung gründen, wenn sie ihrer Amtsermittlungspflicht genügten (Urteil 6B_288/2015 vom 12. Oktober 2015 E. 1.5.3) [E. 2.5].
Ihr Schlusssatz ist zu tiefst befremdlich und zeugt (bei allem Respekt) von dem in der Schweiz so eklatant verbreiteten Unverständnis des Unmittelbarkeitsprinzips:
Hat die Staatsanwaltschaft schlampig untersucht, führt dies selbstverständlich (!) nicht einfach zu einem Freispruch. Die Akten müssen zwar entscheidungsreif sein (Art. 308 Abs. 3 StPO), was eine schweizerische Besonderheit ist, aber ist dies nicht so, sieht das Gesetz keinesfalls einen Freispruch vor! Auch in der Schweiz gilt eine zumindest beschränkte Unmittelbarkeit. Hauptaufgabe der Staatsanwaltschaft ist die Erhebung der Anklage und die Erhebung der dazu nötigen Beweise; das Gericht hat die nötigen Beweise (falls nötig) aber selber zu erheben. Ich zitiere dazu auch gerne Art. 343 Abs. 1 und 2 StPO:
„Das Gericht erhebt neue und ergänzt unvollständige Beweise.
Es erhebt im Vorverfahren nicht ordnungsgemäss erhobene Beweise nochmals.“
Was wäre das für eine Justiz, die sich nur auf das Beweisergebnis des Vorverfahrens verlassen dürfte ohne eigene Wahrheitsermittlungen vorzunehmen? Diese faktische Machtlosigkeit würde vielmehr den Vorwurf von Inquisition erlauben.
Die Überwindung der Inquisition beruht nicht auf dem Gedanken, dass Beweiserhebung und Urteil andere Behörden vornehmen müssen; sondern dass vor Untersuchungsbehörden keine Waffengleichheit herrscht und deshalb durch diese kein Urteil erlaubt sein sollte- die StA ist der Überführung von Tätern verpflichtet, das Gericht nicht. Die Gerichte sind erfreulicherweise der Wahrheit verpflichtet. „Pro reo“ gilt nur „in dubio“, nicht schon vorher.
@Emmenegger: Vielleicht hast Du auch einfach mein Argument nicht verstanden. Aber wir können uns vielleicht darauf einigen, dass wir beide nicht die Verständnisvollsten sind.
„Du hast mich einfach nicht verstanden“ ist zwar eine rhetorisch durchaus effektvolle Replik, da sie Überlegenheit suggerieren soll; über den rhetorischen Wert hinaus hat diese Aussage aber keinen Gehalt.
Aber zur Beruhigung: Mir ist schon klar, dass Sie (ja, nicht „du“) ausgehend von diesem Bundesgerichtsentscheids die tieferinstanzliche Rechtsprechung kritisieren wollten. Nur stimmt die Analyse trotzdem nicht, dass hier noch eine Verhaftung in der Inquisition vorliegen würde. Vielmehr liegt das Problem bei einer teils exessiven Praxis der antizipierten Beweiswürdigung und der Geringschätzung des Unmittelbarkeitsprinzips.
Und ihr letzter Satz („Eine schlampig geführte Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft führt nicht etwa zu einem Freispruch, sondern zu einer Nachbesserung durch den Richter, der damit in die Rolle des Strafverfolgers gleitet.“) ist in der Folge samt und sonders einfach falsch. Der Richter gleitet dadurch keineswegs in die Rolle des Strafverfolgers. Er macht was seine Aufgabe ist: Er erhebt alle Beweise, die aus seiner Sicht nötig sind – ganz besonders dann, wenn sie im Untersuchungsverfahren nicht erhoben worden sind!
Und selbst wenn man ihrer Ansicht ist, läge das Problem nicht bei den Gerichten sondern in der StPO selber verankert. Die entsprechenden Normen hab ich genannt.
Über eine inhaltliche und nicht bloss rhetorische Antwort würd ich mich zwecks fachlichem und sachlichem Austausch freuen. Ansonsten ist eine Antwort durchaus verzichtbar… der Besuch dieser Seite dann jedoch auch.
Wüsste ich, mit wem ich es zu tun habe und hätte ich die Zeit … . Nein danke, ich verzichte.
Na dann, 1 zu 0 für Emmenegger 🙂