Schlechtverteidigung?
Das Bundesgericht weist einen Fall bezüglich Auswechslung der amtlichen Verteidigerin wegen Schlechtverteidigung an die Vorinstanz zurück, weil diese den massgeblichen Sachverhalt, der rechtlich zu würdigen wäre, nur ungenügend festgestellt hat (BGer 1B_470/2020 vom 22.12.2020).
Gerügt war folgendes:
Bei mindestens einer der beiden ersten polizeilichen Einvernahmen vom 13. März 2020 und vom 21. August 2019 habe [die amtliche Verteidigerin] ihn nicht vertreten. Weiter habe sie an vier haftrelevanten Einvernahmen von Mitbeschuldigten im Zeitraum vom 22.-25. August 2019 nicht teilgenommen und ihn über deren Stattfinden und sein Teilnahmerecht auch nicht informiert. Ausserdem habe sie an 19 Einvernahmen insgesamt vier verschiedene Rechtspraktikantinnen und Rechtspraktikanten eingesetzt. Zudem sei er im Zusammenhang mit dem Rückzug der Haftbeschwerde sowie der drohenden Landesverweisung juristisch falsch beraten und schlecht verteidigt worden (E. 4.1, Hervorhebungen durch mich).
Und hier die Mängel des vorinstanzlichen Entscheids gemäss Bundesgericht:
Zwar hat sich die Vorinstanz zu den oben erwähnten Rügen geäussert, jedoch geht aus dem angefochtenen Urteil insbesondere nicht hervor, um welche Art von Einvernahmen es sich gehandelt hat (z.B. ob die Staatsanwaltschaft die entsprechenden Verfahren zum damaligen Zeitpunkt schon eröffnet hatte) oder inwiefern zwischen der amtlichen Verteidigerin einerseits und den Strafbehörden sowie dem Beschwerdeführer andererseits im Vorfeld der Einvernahmen eine Kommunikation stattgefunden hat. Ohne die verbindliche Feststellung der tatsächlichen Umstände, unter welchen die amtliche Verteidigerin an den besagten Einvernahmen nicht anwesend gewesen sein soll, ist dem Bundesgericht die Überprüfung der Rechtsanwendung auf ihre Rechtmässigkeit nicht möglich. Ausserdem enthält das angefochtene Urteil keine sachverhaltlichen Feststellungen zum Einsatz der Rechtspraktikantinnen und Rechtspraktikanten (z.B. ob sie über eine Rechtspraktikantenbewilligung verfügten, wie viele verschiedene Rechtspraktikantinnen und Rechtspraktikanten an welchen und wie vielen Einvernahmen weshalb eingesetzt wurden, ob der Beschwerdeführer damit einverstanden war, inwiefern die amtliche Verteidigerin den Beschwerdeführer und/oder ihre Rechtspraktikantinnen und Rechtspraktikanten instruiert hat und wann die amtliche Verteidigerin selber anwesend war; vgl. Urteile 1B_192/2017 vom 3. Juli 2017 E. 4.3; 1B_375/2012 vom 15. August 2012 E. 1.2). Des Weiteren lässt sich dem angefochtenen Urteil auch nicht entnehmen, in welchem Verfahrensstadium und aus welchen Gründen es zum Rückzug der Haftbeschwerde kam. Zudem bleibt namentlich unklar, in welchen Zusammenhang die erwähnte E-Mail, auf welche sich sowohl der Beschwerdeführer als auch die Vorinstanz bei ihrer Argumentation betreffend die Schlechtverteidigung hinsichtlich der drohenden Landesverweisung stützen, und die darin enthaltenen Erörterungen zu setzen sind (E. 4.2, Hervorhebungen durch mich).
Schwer vorstellbar, dass all das nicht zum Wechsel der amtlichen Verteidigung führen muss, und zwar unabhängig von den Umständen, die das Bundesgericht mangels entsprechender Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nicht kannte.
Dass man Rechtspraktikanten einsetzt, erscheint mir – im Einverständnis des Klienten – nicht problematisch, zumal es sich um Juristen mit Universitätsabschluss handelt. Es ist sicher keine Sorgfaltspflichtverletzung, sich im Einverständnis des Klienten durch gut instruierte Rechtspraktikanten vertreten zu lassen. Wenn es dann aber systematisch nur und immer andere Praktikanten sind, wird es kritischer. An einer Einvernahme überhaupt nicht teilzunehmen dürfte in der Regel eine Pflichtverletzung darstellen, und zwar auch dann oder sogar insbesondere dann, wenn der Klient schweigen will. Ob es eine notwendige Verteidigung ist oder nicht, spielt dabei m.E. keine Rolle.
Im Sozialversicherungsrecht wird der unentgeltliche Rechtsbeistand im Verwaltungsverfahren durch den Sozialversicherungsträger und im Beschwerdeverfahren durch das Gericht durch eine Verfügung bzw. ein Urteil eingesetzt. Wenn er beim Sozialversicherungsträger oder beim Gericht vorher keinen Antrag stellt, dass statt ihm eine andere über ein Rechtsanwaltspatent verfügende Person als unentgeltlicher Rechtsbeistand eingesetzt wird oder dieser Antrag nicht genehmigt wird, wird die durch eine andere Person durchgeführte Arbeit nicht durch den Sozialversicherungsträger bzw. nicht durch das Gericht entschädigt. Rechtsanwaltspraktikanten können gemäss der Rechtsprechungspraxis im Sozialversicherungsrecht im Verwaltungsverfahren und im Beschwerdeverfahren nicht zum unentgeltlichen Rechtsbeistand bestellt werden. Diese Praxis ist abzulehnen, da im Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) der über eine umfassendere Bedeutung verfügenden Begriff “Rechtsbeistand” und nicht wie im OG und später im BGG bzw. im VwVG auf welche im ATSG verwiesen wurde bzw. wird Rechtsanwalt oder Anwalt steht und ausserdem im Parlament und in den Materialen darauf verwiesen wurde, dass man bei der unentgeltlichen Verbeiständung nichts an der Rechtspraxis ändern wollte. Die Rechtspraxis bei der Entstehung des ATSG kannte kein Anwaltsmonopol. Vor der Entstehung wurde die unentgeltliche Verbeiständung in den meisten Sozialversicherungszweigen im Verwaltungsverfahren und im Beschwerdeverfahren durch die kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetze geregelt, in denen es in manchen Kantonen der Praxis entsprochen hat auch Nichtanwälte (auch Nichtjuristen) zum unentgeltlichen Rechtsbeistand zu bestellen. Das ist im VRG des Kantons Zürich immer noch so. Es ist auch sinnvoll in einer materiellen Betrachtungsweise auf die Qualität des Inhalts des häufig gemeinsam mit dem Antrag auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands eingereichten Rechtsmittels (Einsprache, Einwände gegen Vorbescheid, Beschwerde) abzustellen anstatt rein formell nur darauf abzustellen, ob die Person im Anwaltsregister eingetragen ist, da Sozialversicherungsrechts in den meisten Kantonen im juristischen Studium kein Pflichtfach ist und in den meisten Kantonen bei der Anwaltsprüfung nicht oder gemäss Literaturliste nur oberflächlich geprüft wird. Entscheiden ist ob der beantragte Rechtsbeistand sich gemäss dem eingereichten Rechtsmittel im Sozialversicherungsrecht auskennt und nicht ob er ein Rechtsanwaltspatent hat.
“An einer Einvernahme überhaupt nicht teilzunehmen dürfte in der Regel eine Pflichtverletzung darstellen, und zwar auch dann oder sogar insbesondere dann, wenn der Klient schweigen will. Ob es eine notwendige Verteidigung ist oder nicht, spielt dabei m.E. keine Rolle.”
Vielen Dank für diese erfrischende Rechtsmeinung. Ich dachte die Nichtanwesenheit zu Einvernahmen in strafrechtlichen Vorverfahren sei Standard in der Schweiz? Ich vertrat duzende von litauischen Arbeitnehmern in Arbeitsprozessen in Litauen welchen oft Verkehrsstraftaten in der Schweiz vorgeworfen wurde. Die Kollegen verzichteten alle auf irgendwelche Einvernahmen freiwillig obwohl ihre Klienten in polizeilicher Haft oder U-Haft saßen. Auf Rückfrage wurde mir dann gesagt das sei üblich. Kanton BL, BS, Bern und St-Gallen meine ich damit. Auch ein “Prof.” der als Strafverteidiger in der Schweiz arbeitet erwähnte es mir
M.E. ist die Teilnahme an Einvernahmen auch aufgrund der Protokollierung zwingend: Beinahe in jeder EV, der ich bisher beiwohnte, mussten inhaltliche Korrekturen angebracht werden, weil die protokollierten Aussagen und manchmal sogar die Fragen, nicht mit dem tatsächlich Gesagten übereinstimmten – auch den Protokollvermerken ist eine gewisse Tücke inhärent. Der Mandant erkennt die inhaltlichen Unterschiede und deren Tragweite grundsätzlich nicht, weshalb er zu begleiten ist.
Das Bundesgericht hält m.E. zu Recht fest, dass nicht ersichtlich ist, wieso Volontäre vor Gerichten auftreten können sollen, aber nicht vor Strafbehörden (E. 3.2.4.). Ein Problem sehe ich darin, wenn Volontäre nicht richtig instruiert werden, was wohl keine Seltenheit ist. Insbesondere vor der ersten Einvernahme ist eine umfassende Beratung des Beschuldigten Pflicht. Ein Volontär sollte deshalb vor seinem ersten Einsatz, den Anwalt mindestens einmal begleitet haben und auf die wichtigsten Punkte hingewiesen worden sein. Es gibt leider aber Anwälte, die eigentlich kein Strafrecht praktizieren und trotzdem beim Pikett angemeldet sind. Wenn diese dann noch ihre Volontäre zur Einvernahme schicken (auch wenn dies mit dem besten Vorsatz, den Volontären im Praktikum einen umfassenden Einblick zu gewähren, geschieht), kann dies für den Beschuldigten fatale Folgen haben: Man denke beispielsweise an den Fall, dass der Volontär dem eigenen Mandanten eine verfängliche Frage stellt.
Die Auswahl des eigenen Anwalts hat in jedem Rechtssystem eine sehr hohe Bedeutung für den Mandanten. Offenbar ist dem durchschnittlich Gebildeten die Bedeutung aber nicht bewusst, was mich schon etwas an deren kognitiven Fähigkeiten zweifeln lässt.Anders gesagt: Offenbar schätzen viele Mandanten den eigenen Anwalt und was dieser für einen selber tun kann, völlig falsch ein. Kein Geheimnis ist hingegen, dass ein mittelloser Mandant sowieso nicht in den Genuss einer hochwertigen Strafverteidigung kommt.
Ich kann nicht für andere Strafverteidiger sprechen, aber mir persönlich war es stets wichtiger für den Klienten das Optimale rauszuholen als möglichst viel zu verdienen. Insofern erhielten meine mittellosen Mandanten die gleiche Strafverteidigung wie die anderen (wobei das Honorar im Rahmen der amtlichen Verteidigung ohnehin nicht von der der finanziellen Situation des Mandaten abhing). Allerdings kann es natürlich sein, dass ich nie ein hochwertiger Strafverteidiger war und deshalb keiner meiner Mandanten in den Genuss einer entsprechenden Verteidigung gekommen ist. Tja, da kommt man ins Grübeln. Aber Strafverfahren sind eh oft seltsam. Sicher ist der eine oder andere Mandant vor allem darum freigekommen ist, weil die Staatsanwaltschaft zu faul war, um ein Verfahren (weiter) zu führen.
Dass die Mandanten kaum in der Lage sind, die Leistungen des eigenen Anwalts nicht einschätzen trifft zu. Aber dass nur Geld eine hochwertige Strafverteidigung kauft, ist komplett falsch.
Die besten Verteidiger, mit denen ich zu tun hatte, machen alle auch amtliche Mandate und arbeiten da wohl auch nicht schlechter als in Mandaten als Wahlverteidiger. Vielleicht wird etwas weniger Aktenstudium betrieben, weil sie damit rechnen müssen, dass dieser Aufwand gekürzt wird, aber die handwerkliche Qualität bleibt immer.
Die katastrophalsten Verteidiger, die mir untergekommen sind, waren dagegen ausnahmslos Wahlverteidiger, die (angeblich) keine amtlichen Mandate übernehmen. Für einen horrenden Vorschuss wird dem Klienten das Blaue vom Himmel herunter versprochen und im besten Fall noch der frühere Verteidiger schlecht gemacht. Für das Aktenstudium bleibt keine Zeit, stattdessen wird lautsprecherisch darauf losposaunt, die Konfrontation mit Polizisten, Staatsanwälten und Richtern gesucht und der eigene Klient mit unbedachten Ausführungen und Zusatzfragen ans Messer geliefert.
Die Klienten sind trotz der Verurteilung glücklich mit dem Verteidiger, weil sich endlich jemand für sie eingesetzt hat. Irgendwie kriegen sie dann das Geld für den Vorschuss für den Weiterzug zusammen, weil der Wahlverteidiger versichert hat, dass das Urteil garantiert von der nächsten Instanz aufgehoben wird. Dort wiederholt sich das Ganze (falls keine Frist verpasst wird), bis der Klient irgendwann zum nächsten Schaumschläger wechselt.
@STA Läppli: Kommt leider alles vor, ich kann nicht widersprechen. Aber: Es ist auch nicht zu bestreiten, dass die für die Verteidigung verfügbaren Mittel eine ganz wesentliche Rolle spielen können. Privatgutachten, Rechtsgutachten, Zweit- und Drittmeinungen, Co-Verteidigungen, etc. etc. Wenn man weiss, dass es keine Fälle gibt, bei denen ein Freispruch unmöglich ist, der versteht auch, dass man mit den entsprechenden Ressourcen die Chancen selbstverständlich beeinflussen kann.
@kj: Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob die Sachen wirklich einen wesentlichen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs haben, wenn die Staatsanwaltschaft dagegen hält. Der Prozess gegen Pierin Vincenz wird für dies Frage sicher spannend sein.
Mir ging es vor allem um die Fehlvorstellung, dass Qualität und Stundenansatz bei Verteidigern korrelieren. In der Schweiz ist das definitiv nicht der Fall. Höchstens negativ.
Falls ich mal wegen einer vergessenen Aktennotiz oder so in der Bredouille sitze, werde ich auf jeden Fall als erstes bei einem Rechtsanwalt anrufen, dessen Stundenansatz unter CHF 300 liegt.
@STA Läppli: Der Stundenansatz spielt tatsächlich keine Rolle.