Schriftliches Berufungsverfahren
Das Bundesgericht wirft dem Obergericht BE vor, einen Beschuldigten auf ein blosses Objekt staatlichen Handelns reduziert zu haben. Es hatte im Einverständnis der Parteien ein schriftliches Berufungsverfahren durchgeführt, den Beschuldigten dann aber in einem Punkt verurteilt, der erstinstanzlich zu einem Freispruch in dubio geführt hatte (BGer 6B_1349/2020 vom 17.03.2021).
Das erklärte Einverständnis beider Parteien ist unbeachtlich und ungültig, umso mehr, als die Vorinstanz die Sachverhaltsfeststellung der ersten Instanz verwarf und den Beschwerdeführer bezüglich des hier relevanten Vorwurfs im Gegensatz zum erstinstanzlichen Freispruch, der sich auf den Grundsatz „in dubio pro reo“ gestützt hatte (…), schuldig sprach. Bei dieser Ausgangslage kann die Vorinstanz den Sachverhalt nicht lediglich auf Grundlage der Akten feststellen. Sie hat stattdessen die Beschwerdegegnerin und den Beschuldigten zu einer mündlichen Berufungsverhandlung vorzuladen, so dass sich Letzterer zu den Vorwürfen persönlich äussern und diejenigen Umstände vorbringen kann, die der Klärung des Sachverhalts und seiner Verteidigung dienen können. Eine sachgerechte und angemessene Beurteilung der Angelegenheit hätte vorliegend nach einer einlässlichen Befragung des Beschwerdeführers und allenfalls auch einer erneuten Befragung der Zeugen verlangt, worauf die Beschwerdegegnerin selbst hingewiesen hatte (siehe E. 2.3). Indem die Vorinstanz bezüglich des hier massgebenden Sachverhalts als erste verurteilende Gerichtsinstanz auf die Befragung des Beschwerdeführers verzichtet hat, hat sie zum Ausdruck gebracht, dass sie den Aussagen des Beschwerdeführers als angeklagte Person für ihre Beweiswürdigung keine Bedeutung beimisst, obwohl ihm aufgrund der erhobenen Anschlussberufung eine reformatio in peius drohte. Damit hat sie den Beschwerdeführer in unzulässiger Weise auf ein blosses Objekt staatlichen Handelns reduziert (E. 3.3, Hervorhebungen durch mich).
Droht eine reformatio wird die Verteidigung also dem schriftlichen Verfahren in der Regel zustimmen können.
Endlich erkennt die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgericht in seiner bekannterweise fürsorglichen Art und Weise, dass Angeklagte nicht zu blossen Objekten staatlichen Handelns werden dürfen. Deshalb muss dem Angeklagten (und dem Verteidiger) auch die Fähigkeit zur Einwilligung in ein schriftliches Verfahren abgesprochen werden. Sie bedürfen in dieser Frage quasi einer Beistandschaft sui generis durch das Bundesgericht, denn sie wissen nicht, was sie tun, wenn sie ihr Einverständnis, wie es in der Strafprozessordnung ausdrücklich vorgesehen ist, erklären. Nicht einmal das qualifizierte Obergericht Bern scheint in der Lage zu sein, den Standpunkt des Angeklagten in seinen schriftlichen Ausführungen richtig würdigen zu können, es braucht dazu zwingend eine erneute mündliche Befragung. Denn das Papier sagt ja nicht, wie der Angeklagte etwas gesagt hat. Er könnte z.B. eine lange Nase haben, ein klassisches Lügensignal, oder bei seiner Aussage schelmisch gegrinst haben oder beim Lügen rot geworden sein. Ohne einen unmittelbaren Eindruck kann nur das Bundesgericht Entscheidungen fällen. Und, oh Schreck, dieses führt nicht einmal eine Befragung durch, wenn eine solche ausdrücklich verlangt wird. Der EGMR wird es hoffentlich richten und dem Bundesgericht (und in allen Zivilverfahren auch den Obergerichten) mündliche Einvernahmen vorschreiben, ansonsten Parteien vor Bundesgericht zu blossen Objekten staatlichen Handelns werden.
Danke für diesen herrlichen Kommentar, musste lächeln,