Schuldfiktion im Strafbefehlsverfahren
Ein Beschuldigter wurde per Strafbefehl zu einer Busse von CHF 300.00 verurteilt. Dagegen führte er Einsprache, blieb aber der Einspracheverhandlung unentschuldigt fern, was gemäss Art. 356 Abs. 3 StPO als Rückzug der Einsprache gewürdigt wurde. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel mussten erfolglos bleiben (BGer 6B_302/2012 vom 24.05.2012). Die Argumente des Betroffenen durfte das Bundesgericht nicht beachten:
Den Hinweisen des Beschwerdeführers, das Verpassen eines Gerichtstermins könne nicht dazu führen, dass “ein Unschuldiger unverhältnismässig hoch bestraft werde” und “ein Verbrecher unbestraft davon komme” (Beschwerde, S. 2), lässt sich ein rechtsgenüglicher Grund für sein Fernbleiben an der Hauptverhandlung nicht entnehmen (E. 1).
Der Beschwerdeführer machte (an sich völlig zu Recht) geltend, dass er nicht zufolge Nachweises seiner Schuld verurteilt wurde, sondern weil er den Gerichtstermin verpasst hat, was einer Schuldfiktion gleichkommt. Er machte die Rechnung aber ohne den Gesetzgeber, der das genau so gewollt hat. Wenig tröstlich ist, dass es hier bloss um eine Busse von CHF 300.00 ging, denn bei einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten wäre das Ergebnis dasselbe.
Der Gesetzgeber wollte andererseits aber auch, dass Strafbefehle nur unter den Voraussetzungen von Art. 352 StPO (Sachverhalt eingestanden oder anderweitig ausreichend geklärt) erlassen werden dürfen, worum sich die Praxis in den meisten Kantonen foutiert (und dies zumindest bis zur Schwelle des Amtsmissbrauchs wohl auch darf). Damit nimmt man in Kauf, dass die Fehlurteilsquote massiv ansteigt. Wollte der Gesetzgeber auch das?
Von einer Schuldfiktion kann nicht die Rede sein, denn es geht ja nicht um Beweise. Der Fall wird behandelt, wie wenn keine Einsprache erhoben worden wäre – und beim fehlenden Ergreifen eines Rechtsmittels kann doch nicht von einer fingierten Schuld gesprochen werden bzw. davon, dass er wegen des Nicht-Ergreifens eines Rechtsmittels verurteilt wurde!
Der Rest ist wohl eine Wertungsfrage (Effizienz/Kompetenz/Rechtssicherheit/…), wobei sich auch die Frage stellt, was denn nun ein Fehlurteil ist.
Sure, a.shore. Eine Fiktion im Rechtssinn ist doch eine unwiderlegbare Vermutung, nicht? Eben weil es nicht um Beweise ging, ist der Betreffende rechtskräftig zu Schuld und Strafe verurteilt. Dagegen hatte er sich wehren und sich verteidigen wollen, ist aber nicht zur Verhandlung erschienen, womit der Strafbefehl und damit die Verurteilung rechtskräftig wurde. Sie wurde rechtskräftig, nicht weil der Betroffene tatsächlich schuldig ist (vielleicht war er es, vielleicht auch nicht), sondern weil er nicht erschienen ist. Hey, warum führen wir eigentlich nicht alle Strafverfahren im Strafbefehlsverfahren? Das wäre doch viel effizienter.
Ein Fehlurteil liegt m.E. zum Beispiel dann vor, wenn ein tatsächlich Unschuldiger rechtlich schuldig gesprochen wird. In der Praxis begegnen mir übrigens immer wieder Fälle, in denen ein Unschuldiger einen Strafbefehl akzeptiert, obwohl er nicht der Täter sein kann. Drei mal raten, in welchem Bereich das besonders oft vorkommt …