Schuldig, aber wieso eigentlich?
Es kommt vor, dass man die Begründung eines verurteilenden Entscheids liest, und danach trotzdem nicht so recht weiss, wieso man jetzt eigentlich schuldig sein soll.
So ähnlich dürfte es drei Personen gegangen sein, die sich an einem Raufhandel beteiligt haben sollen. Verurteilt wurden sie aufgrund von Aussagen von Angehörigen einer Familie B., die sich gemäss Vorinstanz “mehr als verteidigten (BGer 6B_434/2016 vom 27.03.2017 E. 3.3). Bereits diese Feststellung hätte gewisse Bedenken an der Glaubhaftigkeit der Aussagen begründen müssen. Dessen unbekümmert hat die Vorinstanz verurteilt, ohne auch nur eine Person zu befragen, die nicht am Raufhandel teilgenommen haben soll. Das Bundesgericht verpflichtet in ihren drei Entscheiden letztlich nur, den Sachverhalt abzuklären, bevor sie urteilt:
[Die Vorinstanz] wird den Sachverhalt umfassend neu würdigen und dabei – soweit erforderlich – auf die verschiedenen Beweisanträge des Beschwerdeführers eingehen müssen. Es erübrigt sich somit, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen (BGer 6B_432/2016 vom 27.03.2017 E. 2).
Im dritten Entscheid zum selben Raufhandel (BGer 6B_442/2016 vom 27.03.2017) finden sich weitere Beanstandungen gegenüber der Vorinstanz, die ich nach dem letzten Shitstorm lieber nicht mehr (ausdrücklich) nenne.
Oft sind bei einem Raufhandel die Beteiligten ja schon in der Lage, um glaubhaft auszusagen, ob und wer sich am Raufhandel beteiligt hat. Aussenstehende Zeugen braucht es dazu nicht, genauso wenig wie bei einer Vergewaltigung oder einem Mord. Wer weiss denn am besten, wer ihm aufs Näsli geschlagen hat? Mir scheint das ein lebensfremder Entscheid aus dem Elfenbeinturm, wie ihn nur das Bundesgericht fällen kann. Aussenstehende Zeugen nach mehr als 6 Jahren zu einem Raufhandel zu befragen, kommt nur dem Bundesgericht in den Sinn. Die haben in Lausanne wohl noch nie etwas von einer Vergessenskurve gehört…
Das Bundesgericht hat jedenfalls nicht zu verantworten, dass Schuldsprüche ergehen, die offenbar nicht mehr nachvollziehbar zu begründen sind.
Interessant finde ich am Entscheid des Bundesgerichts nur die Erwägungen, mit denen das Vorbringen der Verteidigung, es hätte kein Strafbefehl ergehen dürfen, verworfen wird. Schon eigenartig, wenn das Gesetz eine Überprüfung des Strafbefehls vorsieht, das Gericht das aber gemäss Bundesgericht gar nicht tun können soll. Hier wäre fachkundiger Kommentar sehr erwünscht gewesen. Den Rest des Entscheids kann man hingegen kaum sinnvoll kommentieren, wenn man den kantonalen Entscheid nicht kennt oder nachlesen kann.
Das Bundesgericht sagt doch lediglich, dass die Prüfung der Gültigkeit des Strafbefehls im Sinne von Art. 356 Abs. 2 StPO nicht einer materiellen Beurteilung entspricht, sondern vorfrageweise, im Sinne einer Prüfung der Prozessvoraussetzung nach Art. 329 Abs. 1 lit. b StPO, erfolgen muss. Dies bezieht sich auf schwerwiegende (formelle) Fehler, wie z.B. gänzlich fehlender Sachverhalt oder Überschreitung der möglichen Höchststrafen. Gibt es keine solchen Fehler ist der Strafbefehl formell korrekt und daher an sich gültig. Liegt jedoch eine gültige Einsprache vor, nimmt das Gericht eine materielle Prüfung vor, in welchem der Strafbefehl “nur” als Anklageschrift gilt, da er durch die gültige Einsprache dahingefallen ist.
Das Bundesgericht reduziert die Prüfung auf eine Nichtigkeitsprüfung. Dazu hätte es aber keine gesetzliche Regelung gebraucht, denn Nichtigkeit ist immer und von allen Instanzen von Amtes wegen festzusetzen. Gültigkeit war nach meinem freilich nicht bundesgerichtlichen Wissen aber jeweils etwas anderes. War die Idee des Gesetzgebers wirklich, dass nur gerade Nichtigkeit geprüft wird?
356/II: “Das erstinstanzliche Gericht entscheidet über die Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache.”
Bemerkenswert scheint mir das Fazit: “Die Begründung des angefochtenen Entscheides genügt daher den Anforderungen von Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG nicht. Der angefochtene Entscheid ist bereits aus diesem Grund aufzuheben.”
Demnach sollte der Sachverhalt (zusätzlich zur Rüge der Willkür) immer auch unter dem Titel der Bundesrechtsverletzung durch ungenügende Begründung gerügt werden. Ob es dem Bundesgericht so ganz bewusst war, welche Türen er da für die Sachverhaltsrügen öffnet?
Interessante Themen.
Eine Willkür-Sachverhaltsrüge ist eben etwas anders als die Rüge einer fehlenden oder ungenügenden Begründung eines Entscheids.