Schuldstrafrecht?
Keine Sanktion ohne Gesetz (Art. 1 StGB). Keine Strafe ohne Schuld (Art. 19 StGB). Nach schweizerischem Strafrecht, welches sich dem Konzept des Schuldstrafrechts verpflichtet fühlt, soll es aber möglich sein, Unschuldige zu sanktionieren (zum Beispiel mit einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB). Ein solcher Fall liegt einem neuen Bundesgerichtsentscheid zugrunde (BGer 1B_493/2020 vom 08.10.2020), bei dem es allerdings “lediglich” um die Frage der Präventivhaft ging, die dann folgerichtig auch dann möglich sein soll, wenn die Unschuld bereits von zwei Instanzen festgestellt worden ist Aus der Sachverhaltsdarstellung des Bundesgerichts:
Mit Urteil vom 28. Mai 2020 stellte das Strafgericht des Kantons Zug, Kollegialgericht, fest, dass der Beschuldigte A. den Tatbestand der versuchten Drohung und mehrfach die Tatbestände der versuchten Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte erfüllte, zufolge Schuldunfähigkeit jedoch schuldlos handelte. Gleichzeitig ordnete das Strafgericht eine stationäre therapeutische Behandlung des Beschuldigten nach Art. 59 StGB an.
Die Beschwerde in Strafsachen ist noch bei der Strafrechtlichen Abteilung hängig. Beim hier erwähnten Entscheid ging es wie gesagt lediglich um eine Haftbeschwerde, welche die I. öffentlich-rechtliche Abteilung trotz bereits zweifach erwiesener Unschuld abweist (Wiederholungs- und Ausführungsgefahr).
Ich bin der Meinung, dass der Beschuldigte vor Sachgericht hätte freigesprochen werden müssen und dass damit auch kein Raum für eine strafrechtliche Massnahme (und Sicherheitshaft) besteht. Die Vereinbarung der stationären Massnahme mit Bundesrecht hat der Beschwerdeführer offenbar gerügt. Das Bundesgericht wird sich somit dazu zu äussern haben. Das könnte spannend werden.
Sie schreiben: “das könnte spannend werden”. Warum denn das?
Es ist ja langjährige Rechtsprechung und Lehre, dass vom Freispruch infolge Schuldunfähigkeit Massnahmen nach Art. 59 ff. StGB nicht berührt werden (vgl. u.a. BaKomm bzw. Art. 19 Abs. 3 StGB).
Sie haben Recht, dass hier wohl formell ein “Freispruch” hätte erfolgen können bzw. müssen und nicht nur die Feststellung, dass der Beschuldigte zufolge Schuldunfähigkeit schuldlos handelte.
An der Möglichkeit eine Massnahme anzuordnen, ändert daran freilich nichts.
wir werden sehen.
Erneut sehe ich das Problem nicht. Zwangsmassnahmen inklusive Untersuchungshaft, mitunter einschneidende Beschlagnahmen/Kontosperren richten sich per gesetzlicher Definition (Art. 10 Abs. 1 StPO) gegen Unschuldige (die vielleicht einmal schuldig gesprochen werden, aber nur vielleicht). Massnahmen richten sich explizit auch gegen Schuldlose.
Das Schweizer Strafrecht ist nunmal seit jeher nicht nur Straf-Recht, es ist auch Gefahrenabwehrrecht (nämlich dort, wo Polizeirecht und KESB nicht mehr genügen).
Niemand möchte, dass ein Geisteskranker jeden Tag mit vorher gekauften/gestohlenen Fleischmessern im Wahn auf Passanten einsticht. So jemand gehört in der einen oder anderen Form weggesperrt, wenn möglich mit Therapie, schlimmstenfalls auch ohne – all das in einem rechtsstaatlichen Verfahren, wo den Verteidigern eine wichtige Rolle zukommt (eine stationäre therapeutische Massnahme kann auch im (eigentlich) langfristigen Interesse des Beschuldigten sein, auch wenn der Beschuldigte diese im Moment nicht will – oder wie frei ist ein freier Wille bei psychisch Kranken, welches seiner Interessen ist ausschlaggebend für die Verteidigungsstrategie?)
Niemand möchte Schuldlose (oder Schuldige) grundlos wegsperren.
Ein schmaler Grat. Wo ist die Grenze? Was wiegt schwerer? Die persönliche Freiheit des Einzelnen oder das möglicherweise beeinträchtigte Recht auf körperliche Unversehrtheit/Leben von anderen? Corona lässt grüssen…
@Querdenker: Wir haben ja nicht nur das Strafrecht, auch wenn man das manchmal glauben könnte.
@kj: Wir haben nicht nur das Strafrecht, aber das Strafrecht ist auf derart gelagerte Fälle anwendbar. Ob für die Gefahrenabwehr in einem derartigen Fall etwa ein FU ausreichend wäre, kann debatiert werden. Aber das wäre für mich eher eine politische Frage.
Dass Massnahmen gegen Schuldunfähige angeordnet werden können ist doch klar und auch sinnvoll. Zudme auch gesetzlich normiert in Art. 19 Abs. 3 StGB.
@HP Seipp: genau, sag ich ja
@Querdenker: richtig, selbstverständlich geht die Sicherheit der Öffentlichkeit vor. Hier kann es objektiv betrachtet keine 2 Meinungen geben!
@kj: stimmt, aber (z.B.) zivilrechtliche Massnahmen reichen vielfach nicht aus bzw. diese “Übung” muss oftmals nach unzähligen “Chancen” abgebrochen werden…das ist einfach Realität
@HP Seipp: Das stimmt m.E. aber nur, wenn die Handlung tatbestandsmässig und rechtswidrig war. Falls nicht rechtswidrig, dann auch keine Massnahme, oder?
verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf Ihren eigenen Beitrag:
https://www.strafprozess.ch/tatenlose-massnahmen/
@kj: Ja, das ist natürlich richtig. Ohne tatbestandsmässige und rechtswidrige Tat besteht kein Anlass für eine strafrechtliche Sanktion.
Da eine schuldunfähige Person keine taugliche Adressatin von Verhaltensnormen sein kann (weil sie gar nicht dazu in der Lage ist, sich durch den Normbefehl zu einem bestimmten Verhalten motivieren zu lassen), kann aus normtheoretischer Sicht bezweifelt werden, ob sich eine schuldlos handelnde Person überhaupt strafrechtlich rechtswidrig verhalten kann.
Ausgehend von dieser Annahme bliebe nie Raum für die Anordnung einer strafrechtlichen Massnahme im Falle einer schuldlosen Tatbegehung. Wegen Art. 19 Abs. 3 StGB ist aber davon auszugehen, dass der Gesetzgeber diese Annahme nicht teilt.
@kj: Ja, seh ich auch so. Interessanter neuster Fall, der bald mal vor BGer kommen wird, ist übrigens der Schaffhauser-Kettensäger Fall. Dort ging es um einen Schuldunfähigen, der in seinem Wahn von einem Angriff des Opfers ausging (Putativnotwehr). Somit war die Tat objektiv gerechtfertigt, Sachverhaltsirrtum. Trotzdem wurde eine Massnahme verhängt. Muss ja im Ergebnis auch so sein, da sind sich wohl alle einig.. aber die Begründung ist gar nicht so einfach.
@hp seipp. Könnte eine argumentation sein, das mittel der kettensäge war nicht eine angemessene abwehr? Dann wäre die notwehr nicht rechtfertigend, sondern höchstens entschuldbar. Die strafe fiele dann milder aus, aber um die strafe gehts ja bei diesem fall nicht.
Ergänzend ein paar Auszüge aus dem Entscheid, E. 4.2:
[… ]manisch-schizoaffektive Störung) und leide an starken und akuten Wahnvorstellungen und Realitätsverkennungen.
[…] schriftlich damit gedroht, er werde “die Arbeit von Leibacher fertig machen” [
[…] habe er “klar und deutlich angedroht”, sie würden es “mit dem Leben bezahlen”, wenn ihm nicht innert vier Tagen ein Check über Fr. 170’000.– ausgestellt werde […]
[…] habe er angedroht, er werde ihnen “Schraubenzieher in jedes Ohr stecken” und sie danach “köpfen” […]
[…] habe der Beschwerdeführer eine Axt, ein Teppichmesser, ein spitzes Küchenmesser, zwei Schlagringe sowie ein zugespitztes Holzstück mit sich geführt. Der Verfahrensleitung des erstinstanzlichen Strafgerichtes habe er unter anderem mitgeteilt, dass die für das Strafurteil verantwortlichen Gerichtspersonen nun ebenfalls auf seiner “Abschussliste” stünden und es für sie “keine Gnade” geben werde. In einem Schreiben an die Mitglieder der Beschwerdeabteilung des Zuger Obergerichtes habe er erneut den Fall “Leibacher” erwähnt und mitgeteilt, dass er “nur zwei Möglichkeiten” sehe: ” (1) ihr tötet mich, oder (2) ich töte euch Alle”; das Wort “Alle” habe er fünfmal unterstrichen. Auch an die Strafabteilung des Obergerichtes habe er Schreiben mit Todesdrohungen gerichtet